Niederlande: Schwung trotz Sieg des Regierungslagers?
Die niederländische Parlamentswahl hat die VVD von Premier Rutte mit 22 Prozent erwartungsgemäß gewonnen. Am stärksten legte allerdings ihr Koalitionspartner zu, die linksliberale D66 mit Spitzenkandidatin Sigrid Kaag. 2017 war sie lediglich vierte Kraft geworden, jetzt kam sie auf Platz zwei. Kommentatoren glauben, dass die neue Regierung dennoch überraschend viel Meinungsvielfalt bieten könnte.
Regieren bringt's, nicht Fusionieren
Die klassisch linken Parteien verloren bei der Wahl allesamt, weshalb erneut Forderungen nach deren Fusion laut werden. De Telegraaf sieht da noch bessere Optionen:
„Die linken Parteien wissen, dass ihre Anhänger keinen Streit in den eigenen Reihen wollen. Die Kehrseite dessen wurde bei der Wahl deutlich: In Interviews und Debatten taten die linken Führer ihr Bestes, um bloß keine Unterschiede zwischen ihren Parteien erkennen zu lassen. ... Aber Donnerstag soll ein prominenter linker Abgeordneter gesagt haben, dass Regieren zusammen mit VVD, CDA und D66 vielleicht auch eine Option ist. Dies wäre in der Tat eine Chance, den eigenen Club mit einem Minister zu profilieren. In der Opposition ist es nämlich ziemlich voll geworden. Und das Ergebnis zeigt zudem, dass Wunden-Lecken in der Opposition sicherlich keine Erfolgsgarantie ist – ob fusioniert oder nicht.“
Ein Potpourri an Meinungen
Die Neue Zürcher Zeitung findet es spannend, dass in den Niederlanden Koalitionen häufig ein breites Meinungsspektrum vertreten:
„Im niederländischen Parteien-Supermarkt finden sich heute Gruppen für jeden Geschmack und jedes Anliegen. … Diese Vielfalt erklärt sich durch eine extrem niedrige Wahlhürde von nur 0,7 Prozent … Kollabiert ist das System … noch nicht. Es bedarf jedoch in einem besonderen Mass der Kunst, Kompromisse zu schliessen. … Gehen Rutte und der neue Polit-Star Kaag aufeinander zu, und dies ist das wahrscheinlichste Szenario, könnte es interessant werden. Denn beide Parteien versammeln unterschiedliche Wählergruppen hinter sich und verfechten in Fragen des Klimaschutzes, in der Innenpolitik oder in Migrationsfragen ziemlich konträre Positionen.“
Dank Rutte EU-Schwergewicht
Die Niederlande innerhalb der EU weiter gestärkt sieht El Mundo:
„Der Wahlsieg stärkt nicht nur Rutte selbst, der nach Merkels Ausscheiden zum dienstältesten Regierungschef der 27 Mitglieder aufsteigt, sondern auch die Niederlande. Das Land hat sich zu einem Schlüsselfaktor bei jeder wichtigen EU-Entscheidung entwickelt. Die forsche Haltung bei Themen wie Migration oder Brexit hat Ruttes Gewicht unter den Regierungschefs gestärkt. Während der Verhandlungen über die Zukunft der Eurozone im vergangenen Jahr führte er die 'Sparsamen' mit ihrer Forderung an, Direkthilfen zu stoppen, um die Schulden nicht in die Höhe schießen zu lassen.“
D66 wagte sich auch an die unbequemen Themen
Die Linksliberalen verdanken ihren Erfolg ihrer Spitzenkandidatin, analysiert NRC Handelsblad:
„Die VVD zielte nur auf Führung: Mark Rutte ist der Premier, der in den vergangenen zehn Jahren bewiesen hat, dass er die Niederlande durch Krisen führen kann. So hielt man den Wahlkampf aber fern von unbequemen Themen wie dem Klima oder der Kinderbeihilfen-Affäre. Nur Sigrid Kaag gelang es, eine Gegenstimme zu formulieren. Sie führte Wahlkampf mit dem Slogan, dass es Zeit sei für 'neue Führung'. Sie machte einen soliden Eindruck in den Debatten. Sie traute sich, oft als einzige Standpunkte zu vertreten, etwa zum Corona-Pass (für den sie sich als einzige einsetzte).“
Linken wurde das Wasser abgegraben
Sozialdemokraten und Grüne wurden von den Wahlsiegern erfolgreich an den politischen Rand gedrängt, analysiert De Volkskrant:
„Das Trauerspiel dieser Wahl vollzog sich auf der linken Seite. Als mildernden Umstand kann man anführen, dass die konservativen Parteien sich mit linken Ideen wie Unternehmensbesteuerung und Erhöhung des Mindestlohns auf und davon gemacht haben. Die Reaktion sowohl von GroenLinks als auch von der Partij van de Arbeid war, sich noch weiter nach links zu bewegen: mit noch härterer Kritik am Neoliberalismus und an der Wirtschaft und indem sie noch mehr Diversität und eine noch grünere Umwelt forderten. Für die große Mehrheit der Wähler war das nicht attraktiv.“