Tauwetter zwischen USA und Russland: schon vorbei?
Noch am Dienstag hatte Joe Biden Wladimir Putin angerufen und ein persönliches Treffen angeregt - wenige Wochen, nachdem er Putin aufs Schärfste kritisiert hatte. Nun verhängte die US-Regierung Finanzsanktionen und wies zehn russische Diplomaten aus, weil sie Moskau für einen großen Hackerangriff und Einmischungen in die US-Wahl 2020 verantwortlich sieht. Europäische Medien ordnen das Hin und Her ein.
Ein Zugeständnis an die linke Flanke
Der Politologe Edward Lozansky sieht in Iswestija ein klares Motiv für Bidens Kurswende in der Russland-Politik:
„Der Hauptgrund ist ein offener und koordinierter Vorstoß des linken Parteiflügels der Demokraten, bei dem 27 ihrer Organisationen Biden aufriefen, auf 'unbesonnene' Rhetorik in Bezug auf Putin zu verzichten und stattdessen 'konstruktive bilaterale Verhandlungen' zu führen. ... Sie forderten Biden auf, 'seine erklärte Verpflichtung zur Anwendung von Diplomatie als Kern unserer Außenpolitik' zu erfüllen. Biden war gezwungen, den Linken entgegenzukommen, denn im Kongress bilden sie eine bedeutende Fraktion. Wenn er ihren Rückhalt verliert, bleiben viele seiner Vorhaben Papiertiger.“
Gipfel dürfte vorerst vom Tisch sein
Trotz aller Anfeindungen wissen Moskau und Washington, dass sie den Streit nicht eskalieren lassen können, meint La Vanguardia:
„Die Beziehung zwischen den beiden Rivalen ist an einem schwierigen Punkt, aber beide Beteiligten sind sich der Tatsache bewusst, dass es hier um ein heikles Tauziehen geht, bei dem es besser ist, die Seile zwar zu spannen, sie aber nicht reißen zu lassen. Nach den drakonischen finanziellen Sanktionen und der Ausweisung von Diplomaten zeichnet sich allerdings klar ab, dass ein Treffen zwischen Biden und Putin in diesem Jahr unwahrscheinlich wird.“
Wirksame Geste
Mit seiner Einladung hat Joe Biden die Situation in der Ostukraine entspannt, meint Kolumnist Witali Portnikow in lb.ua:
„Für den russischen Präsidenten ist ein solches Treffen mit dem amerikanischen Kollegen eine Art Anerkennung seiner eigenen politischen Bedeutung. Putin kann sich wie ein sowjetischer Generalsekretär fühlen, der sich zum Zeitpunkt einer akuten Krise mit dem amerikanischen Präsidenten trifft. Und natürlich würde jede aggressive Handlung Moskaus diesen Gipfel stören. ... Überhaupt ist das wahrscheinlich das Wichtigste, was Biden heute für die Ukraine tun kann: ganz glasklar die Unterstützung unseres Landes zu erklären und Putin in die Falle eines möglichen Treffens zu 'locken'.“
Es geht immer der Schwächere auf den Stärkeren zu
Der Vorschlag ist eine diplomatische Niederlage für die USA, findet hingegen Trud:
„Obwohl das vorgeschlagene Gipfeltreffen zwischen US-Präsident Joe Biden und seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin in einem Drittland stattfinden soll, liegt der Vorteil beim Eingeladenen. Im Nervenspiel hat Biden verloren, denn wer zuerst blinzelt, verliert. Dies geschieht vor dem Hintergrund mehrerer sehr wichtiger Prozesse. Erstens gelang es den beiden nicht, den Iran zu brechen. … Zweitens, als Folge dessen, ist es sehr wahrscheinlich, dass es in einigen Jahren offiziell neue Länder im Club der Atommächte geben wird. … Drittens: die Situation in der Ukraine.“
Opposition ist jetzt auf sich allein gestellt
Der Publizist und oppositionelle Ex-Abgeordnete Alexej Melnikow sieht in einem von Echo Moskwy übernommenen Telegram-Beitrag den Kontakt Bidens zu Putin als Verrat an der demokratischen Opposition in Russland:
„Biden hat bewiesen, dass er ein zynischer Machtpolitiker ist, den nur sein Land interessiert. Euch, die russischen Unterstützer der Werte von Freiheit und Demokratie, ist er bereit zu opfern, wenn er sich mit dem trifft, den er 'Mörder' nannte. Ihr werdet hier umgebracht, geschlagen, eingelocht und verfolgt, aber Biden interessiert das nur vorgeblich. Sicher, Russland ist nicht sein Land. Aber Amerika ist eine Weltmacht, die für Freiheit und Menschenrechte eintritt. In Hinblick auf Russland gilt das jetzt nicht mehr.“
Der Westen braucht diesen Biden
Für Rzeczpospolita zeigt sich Biden erneut als starke Führungsfigur:
„Anhand seiner Aktivität an vielen diplomatischen Fronten kann man sehen, dass Biden die Anzahl der Konflikte begrenzen, so viele sekundäre Konflikte wie möglich auslöschen und einige seiner Feinde besänftigen möchte, um sich auf China und Russland zu konzentrieren, zumindest solange Russland seine Politik nicht ändert. Der Kreml wird eine solche Änderung wahrscheinlich nicht wollen, auch wenn sie möglich wäre. Es ist wichtig, dass Biden nicht weich wird. Der von der Pandemie gepeinigte Westen braucht eine entscheidungsstarke Führungsperson. Und er braucht eine klare Botschaft ohne durch nationale Interessen motivierte Heuchelei. “