Grüne Kanzlerkandidatin: Zeichen einer Zeitenwende?
Die Spitze der Grünen hat sich geeinigt und schickt Annalena Baerbock ins Rennen ums Kanzleramt – ein Novum für die Partei. Sollten die Grünen nach der Wahl im September die Regierung führen, würde die 40-Jährige Kanzlerin. Kommentatoren werten die Nominierung als Zeichen des Wandels, verteilen manchen Seitenhieb gegen Union und SPD, fragen sich aber auch, wofür Baerbock eigentlich genau steht.
Endgültig die neue Mitte
Voller Hoffnung ist Berlin-Korrespondent Paolo Valentino in Corriere della Sera:
„Zum ersten Mal in ihrer 40-jährigen Geschichte streben die Grünen die Führung Deutschlands an. Sie tun dies mit der jüngsten Kanzlerkandidatin aller Zeiten, einer Frau, die im Jahr der Gründung der Partei geboren wurde und sie in nur drei Jahren zum neuen Gravitationszentrum der deutschen Politik gemacht hat. ... Sie tun dies mit einer beeindruckenden Demonstration von Disziplin und Geschlossenheit, die das in den gleichen Stunden stattfindende Psychodrama innerhalb der CDU-CSU noch mehr hervorhebt. Es ist der endgültige Sprung in die Mitte der Gesellschaft.“
Vom Zeitgeist beflügelt
Das Klimathema hat den Grünen weiter Aufwind verschafft, analysiert Die Presse:
„Dass die Grünen überhaupt eine Kanzlerkandidatin kürten, markiert eine Zäsur. Bisher war dies den alten Volksparteien CDU/CSU und SPD vorbehalten. Bei den Sozialdemokraten ist das Attribut schon längst nicht mehr gerechtfertigt, und die Christdemokraten tun momentan alles, um ihre Reputation als Kanzlerwahlverein zu verspielen. ... Die Grünen bilden besser als ihre Mitbewerber den Zeitgeist ab, der auch vom Bewusstsein um die Gefahr des Klimawandels beflügelt wird. ... Die Grünen legten ... Dogmen ab, so wie sie sich eine mitunter bürgerliche Attitüde aneigneten. Das Alternative kam ihnen mehr oder weniger abhanden, dafür stilisierten sie sich als Alternative zur Union.“
Keine Verbotspartei mehr
Mit dem Imagewandel der Grünen beschäftigt sich auch Krytyka Polityczna:
„Unter der Führung von Baerbock und Habeck haben die Grünen den Ruf einer Verbotspartei beseitigt. Anstatt zu erziehen und mit Gewalt bessere Menschen zu formen, wollen sie die Wähler mit besserer Politik erreichen. Anstatt ein schlechtes Gewissen zu machen, wollen sie beruhigen. Haben Sie Angst vor einer Klimakatastrophe? Sind Sie mit dem CO2-Fußabdruck, den Sie beim Urlaubsflug nach Thailand hinterlassen haben, nicht ganz zufrieden? Oder beunruhigt Sie die soziale Ungleichheit, während es Ihnen gut geht? Ausgezeichnet, die Grünen sind die richtige Partei für Sie.“
Europapolitisch ein unbeschriebenes Blatt
Wie eine Kanzlerin Baerbock sich nach Außen positionieren würde, fragt sich Eric Bonse auf seinem Blog Lost in EUrope:
„Immerhin, Baerbock hat mal im EU-Parlament gearbeitet. Doch dort hat sie offenbar kaum Spuren hinterlassen, als ausgewiesene Europapolitikerin gilt sie nicht. ... Ich vermisse auch Aussagen zur Außenpolitik. ... Wir wissen deshalb nicht, was sie plant. Wir wissen auch nicht, wie sie zu Frankreich steht, zu Italien oder zu Ungarn - alles zentrale Fragen der Europapolitik. Wir wissen eigentlich gar nichts - außer, dass sie es sich zutraut. Warum eigentlich?“