Paris: Auftakt zum Bataclan-Prozess
Fast sechs Jahre nach den Terroranschlägen im November 2015, bei denen mehr als 130 Menschen getötet wurden, hat in der französischen Hauptstadt am Mittwoch der Prozess gegen die mutmaßlichen Attentäter begonnen. Die Anhörungen werden auf Video aufgezeichnet und veröffentlicht. Kommentatoren loben die juristische Aufarbeitung, sorgen sich aber, dass andere Dinge außer Acht bleiben könnten.
Hoffentlich ein ganz normales Verfahren
Die langjährige Paris-Korrespondentin von Le Soir, Joëlle Meskens, hofft, dass die Dimension des Prozesses nicht vom Wesentlichen ablenkt:
„Alles wird außergewöhnlich sein. Die Größe des eigens errichteten Gerichtssaals im historischen Pariser Gerichtsgebäude (45 Meter Länge), die Zahl der Nebenkläger (rund 1.800), die Dauer der Anhörungen (mehr als acht Monate), die Dicke der Akten (53 Meter). Dieser Gigantismus ist dem begangenen Schrecken angemessen. ... Wie groß der Prozess auch immer sein mag, er darf weder in Hybris noch in Maßlosigkeit münden. Denn er ist keine Ausnahmeerscheinung, sondern ein ganz gewöhnlicher Prozess, der einer Nation Ehre macht, deren Werte auch nach fast einem Jahrzehnt islamistischen Terrors nicht ins Wanken geraten sind.“
Ein Nachweis der Demokratie
Für die französische Gesellschaft ist der Prozess auf mehrfache Weise von Bedeutung, erklärt Polityka:
„Die französischen Behörden räumen dem Prozess einen hohen Stellenwert ein und wollen ein gesellschaftliches Bewusstsein für diese traumatische Seite in der Geschichte des Landes schaffen. Der Prozess hat außerdem einen wichtigen rechtspädagogischen Aspekt. Mit den Worten von [Le Monde-Terrorismusexperte Soren Seelow – Anm. der Redaktion: Im Originalzitat wurde eine falsche Quelle angegeben]: 'Die Demokratie muss beweisen, dass sie auf Akte der Barbarei und des blinden Mordens mit einem fairen Prozess reagieren kann, bei dem der Angeklagte das volle Recht auf Verteidigung hat und ihm alle konkreten Beweise für seine Schuld vorgelegt werden.'“
Eine Ideologie kann man nicht einsperren
Diese Verhandlung ist nur ein kleiner Baustein im Kampf gegen den Dschihadismus, kommentiert Marianne:
„Der Prozess wird nicht der posthume Prozess gegen Attentäter sein, die bei ihrem Angriff ums Leben kamen und daher nicht verurteilt werden können. ... Zuvorderst muss einer tödlichen Ideologie der Prozess gemacht werden, die nur schwer juristisch zu verurteilen und hinter Gitter zu bringen ist. Die geistigen Gefängnisse dieser Menschen sind stärker als das Gesetz. ... Man darf nicht vergessen, dass die IS-Miliz in Erwartung des Endgerichts ihr Todeswerk fortsetzt.“
Gerechtigkeit hat den längeren Atem
Dass der Prozess auf Video aufgezeichnet wird, freut Libération:
„Eine gefilmte Anhörung für die Geschichte, die es den Zeugen, die unbedingt anwesend sein wollten, ermöglichen könnte, sich über den Opfer-Status zu erheben, den die Terroristen ihnen zugeschrieben hatten. ... Es ist bedauerlich, dass dieses nationale Ereignis nicht live übertragen wird, um eine kollektive Solidarität zu ermöglichen. Aber die gefilmten Archive werden bleiben, um zukünftigen Generationen zu zeigen, dass jenseits der Zahlen und Fakten die Gerechtigkeit über die Barbarei gesiegt hat.“
Problem der Banlieues wird weiter verdrängt
Der Prozess hat auch den Sinn, zu zeigen, wie eine Demokratie mit Schmerz umgeht, betont der Paris-Korrespondent Stefan Brändle in der Frankfurter Rundschau:
„Allein schon, um klarzumachen, dass das französische Rechtssystem nicht mit den Instinkten der Rache und Gewalt antwortet, sondern nüchtern, überlegt und entschlossen. Frankreich hat seit dem 13. November 2015 bewiesen, dass es möglich ist, sich von den Attentaten nicht unterkriegen zu lassen. Polizei und Terrorabwehr wurde verstärkt, ohne dass sich die Bürger:innen ihren Alltag vergällen lassen. Darin zeigen sie sich stark. Zugleich verdrängen sie weiter ihr wohl größtes Problem: die Banlieue-Zonen, aus denen die meisten Attentäter stammen. Das ist der schwache Punkt Frankreichs - und ihn behebt keine Gerichtsverhandlung.“