EU aktiviert Rechtsstaatsmechanismus gegen Ungarn
Erstmals werden die EU-Mitgliedstaaten den Rechtsstaatsmechanismus anwenden und für Ungarn bestimmte Fördergelder in Höhe von 6,3 Milliarden Euro einfrieren. Unter strengen Auflagen erhält Budapest aber Gelder aus dem Corona-Hilfsfonds, im Gegenzug wurde die Blockade gegen die Budgethilfe für die Ukraine und die Mindeststeuer für Konzerne aufgegeben. Europas Presse bilanziert den ungewöhnlichen Kompromiss.
Brüssel vs. Budapest geht in die heiße Phase
Dass die ungarische Regierung den Kompromiss als Sieg bezeichnet, findet Népszava unbegründet:
„Entgegen der heimischen Propagandakampagne macht der Kompromiss deutlich, dass die Regierung ihr Potenzial bei der Interessenvertretung auf der internationalen Bühne verloren hat: Sie kann nicht einmal mehr auf die Solidarität der Staaten in der Region zählen. ... Das Tauziehen zwischen Brüssel und Budapest ist längst nicht vorbei. Die heiße Phase beginnt gerade erst. Denn für den Erhalt der Fördermittel müssen im Gegenzug harte Bedingungen erfüllt werden.“
Nur ein selbst verursachtes Problem weniger
Auch Válasz Online sieht für Orbán keinen Grund zum Feiern:
„Die systematische Blockierung gemeinsamer EU-Entscheidungen hat dazu geführt, dass es im Rat keinen Mitgliedstaat gab, der die ungarische Regierung verteidigt hätte. Weder unsere Visegrád-Mitstreiter noch unsere ideologischen Freunde aus Italien haben vorgeschlagen, die Aussetzung der EU-Mittel komplett fallen zu lassen. ... Mit dem qualvoll ausgehandelten und aus ungarischer Sicht nicht besonders vorteilhaften Kompromiss (Verzicht auf Vetos im Gegenzug für einen stark kontrollierten Zugang zu Geldmitteln) löst die ungarische Regierung ein Problem, das sie selbst geschaffen hat.“
Einstimmigkeitsprinzip schadet
Nach der Blockade ist vor der Blockade, befürchtet das Handelsblatt:
„Der nächste Erpressungsversuch aus Ungarn kommt bestimmt. Es ist daher höchste Zeit, das Einstimmigkeitsprinzip im Rat einzuschränken, um weniger erpressbar zu werden. Die qualifizierte Mehrheit sollte in vielen Politikfeldern genügen, um eine EU-Entscheidung herbeizuführen. Die Bundesregierung etwa macht sich dafür stark, in Finanzfragen stärker auf das Mehrheitsprinzip zu setzen. Es ist nicht hinnehmbar, dass ein einzelner Regierungschef wie in den vergangenen Wochen geschehen zeitkritische und lebenswichtige Entscheidungen wie die Ukraine-Hilfen nach Lust und Laune verhindern kann.“
In der EU wächst ein starker Grundkonsens
Der ungarische Premier hat das Oppositions-Spiel überreizt, meint die Neue Zürcher Zeitung:
„In der neuen geopolitischen Lage sind ihm die Verbündeten davongelaufen. Polen, das Orbán immer zur Seite gesprungen war, wenn er für die Schwächung der Gewaltenteilung bestraft werden sollte, hat den Ungarn im Stich gelassen. Isoliert und um künftige Covid-Gelder bangend, verzichtete Orbán auf das Veto gegen die Ukraine-Hilfe. … Die Einheitsfront gegenüber Orbán (nicht gegenüber Ungarn!) ist ein weiteres Indiz dafür, dass die EU – trotz Rückschlägen – in der Konfrontation mit Russland stärker wird und nicht schwächer. Es gibt in Ansätzen einen supranationalen Grundkonsens darüber, was akzeptabel ist und was nicht.“
Eine Lehre für Polen
Wprost warnt:
„Der Kompromiss über die Zahlung von EU-Geldern an Ungarn ist eine wichtige Lehre für die polnische Regierung. Er zeigt, dass das Spiel mit dem Veto, das vermeintlich die Wunderwaffe im Kampf gegen die Verschwörung der Brüsseler Bürokratie gegen die polnische Souveränität sein soll, ein unwirksames und sehr zweischneidiges Schwert ist. Viktor Orbán hat es kaum genützt, obwohl seine Regierung in den letzten Monaten versucht hat, Brüssel in praktisch allen Fragen, die eine einstimmige Entscheidung der Mitgliedstaaten erfordern, zu erpressen.“
Am Ende sagt Ungarn nie nein
Orbáns Manöver sind hier wie bei den Sanktionen nichts als Effekthascherei, ist Investmentbanker Serhij Fursa in NV genervt:
„Ungarns Wirtschaft ist stärker von der EU abhängig als von Putins Geld. Selbst wenn Orbán sich [mit seinem Schimpfen gegen die EU] auf populistische Weise billige Popularität erkauft - ohne EU-Gelder würde alles zusammenbrechen. Und das weiß Orbán. Es wird also auch ein neuntes Sanktionspaket geben. Vielleicht etwas später. Wenn Orbáns Schachern wieder endet. Und ja, für das ganze Haus wäre es sicherlich besser, wenn man so einen Mitbewohner einfach vor die Tür setzen könnte. Aber in den Unterlagen der Genossenschaft gibt es keine derartige Regelung. ... Er kann nur selbst entscheiden auszuziehen. Aber er wird es nicht tun. Wegen des Geldes.“