EU-Gipfel: Wendepunkt bei der Ukraine-Hilfe?
Die Staats- und Regierungschefs der EU haben beschlossen, die Gewinne aus den eingefrorenen russischen Vermögen tatsächlich für die Unterstützung der Ukraine zu verwenden. Zuvor hatte der ukrainische Präsident Selenskyj erneut gefordert, die Vermögen zu konfiszieren, was jedoch keine Mehrheit fand. Kommentatoren zeichnen das Bild eines Europas, das den Ernst der Lage zwar erkannt hat, für viele aber dennoch zu langsam agiert.
Vermögen vollständig nutzen
Russische Gelder sollten konfisziert und zur Unterstützung der ukrainischen Verteidigung eingesetzt werden, so Obosrewatel:
„Europa versucht formell, Risiken zu entgehen, die bei einer [vollständigen] Konfiszierung unvermeidlich sind. Erstens wird Russland im Fall einer unmittelbaren Beschlagnahme souveräner Kreml-Milliarden gegen europäische Finanzunternehmen klagen. Zweitens wird der Kreml als Gegenmaßnahme westliche Vermögenswerte beschlagnahmen. Aber ehrlich gesagt ist das [Zögern der EU] ein Ausdruck von Feigheit... Denn Putin wird in jedem Fall alle größeren westlichen Unternehmen in Russland verstaatlichen, und dann wird auch der Westen über Beschlagnahmungen entscheiden müssen. Früher oder – wie es häufiger passiert – später.“
Eine Koalition, auf die Verlass ist
Kyjiw hat im Gegensatz zu Moskau echte Partner, meint Telegraf:
„Sowohl Peking als auch Teheran schämen sich, zuzugeben, dass sie Moskau unterstützen. Sie verschleiern ihre Hilfe und leugnen Waffenlieferungen. ... Außerdem gehen Russlands heutige Partner in erster Linie von ihren wirtschaftlichen Interessen aus. Dabei nutzen sie dessen verwundbare Position aus, indem sie seine Ressourcen praktisch zu Dumping-Bedingungen verbrauchen. ... Das ist der große Unterschied zwischen der echten westlichen Koalition zur Unterstützung der Ukraine und der sehr bedingten östlichen Koalition zur Unterstützung Russlands. ... Ja, es gibt eine gewisse 'Achse des Bösen', zu der neben dem oben genannten Trio auch Nordkorea und Vasallenstaaten wie Belarus gehören. Aber das ist gewiss keine Koalition.“
Endlich Nägel mit Köpfen machen
Europa muss noch mehr für Kyjiw tun, zumal die Unterstützung der USA wackelt, fordert La Stampa:
„Die [bisherige] Unterstützung wird nicht in der Lage sein, den Konflikt umzukehren; bestenfalls wird sie der Ukraine ermöglichen, ihre Verteidigungslinien aufrechtzuerhalten. Um den Frieden in Europa wiederherzustellen, ist viel mehr nötig. ... Der Europäische Rat ist sich darüber im Klaren, dass es zunehmend an Europa liegt, die Verteidigung der Ukraine sicherzustellen, und obwohl ein russischer Angriff auf andere europäische Länder nicht unmittelbar bevorsteht, würde das Risiko exponentiell steigen, wenn Europa Kyjiw nicht unterstützt. ... Die menschlichen und wirtschaftlichen Kosten solch eines Versagens wären unendlich viel höher als die Brosamen, die der Ukraine bisher gegeben wurden.“
Von Multikulti zu Militär
Radio Kommersant FM skizziert die generelle Herausforderung für die EU:
„Man kann es wagen, den EU-Gipfel als historisch zu bezeichnen. Hauptthema ist weniger das Schicksal der eingefrorenen russischen Guthaben, sondern der Fakt, dass die Gemeinschaft wohl erstmals den Übergang der Wirtschaft auf Kriegsgleise diskutiert. ... Europa war auf den Krieg völlig unvorbereitet. Niemand hat ihn erwartet, niemand hielt ihn für möglich. Was waren die Prioritäten? Das Klima - man schrieb den Landwirten Handbücher, wie viel Kohlendioxid Kühe ausstoßen dürfen, damit sie der Umwelt nicht schaden. ... Was noch? Gender-Neutralität, Multikulturalismus, Gleichberechtigung - vor diesen netten, rosigen Hintergrund hat man die militärische Bedrohung vergessen.“
Westen wird weiter zaudern
Neatkarīgā glaubt nicht an eine allgemeine Wende im Verhalten Europas und der anderen westlichen Verbündeten:
„Russlands Wirtschaft wird nach und nach vollständig auf Kriegszustand umgestellt. ... Daher können wir eine immer bessere und stärkere militärische Schlagkraft der russischen Armee vorhersagen. ... Die Geschichte lehrt uns, dass der Westen trotz seiner derzeitigen militärischen Überlegenheit so lange wie möglich auf jeden militärischen Konflikt mit Russland verzichten wird. .. Dies wird Putin natürlich ermutigen. ... Der Westen hofft, so lange zögern zu können, bis Putin die Bühne verlässt. Danach wird es möglich sein, mit den neuen Chefs des Kremls etwas zu verhandeln. Die Frage ist nur, wie lange es bis dahin dauern wird und was Putin dann alles geschafft hat.“