Selenskyjs 'Siegesplan' auf dem Brüsseler Prüfstand
Wolodymyr Selenskyj hat seinen "Siegesplan" erst zuhause im Parlament vorgestellt und dann am Donnerstag in Brüssel beim EU-Gipfel und bei der Nato beworben. Eine zeitnahe Einladung zum Nato-Beitritt sei dabei ein Kernpunkt. Eher beiläufig sagte Selenskyj auch, eine Alternative zum Schutz durch das westliche Bündnis könnten für die Ukraine nur eigene Atomwaffen sein. In den Medien dominiert Skepsis.
Nato-Mitgliedschaft bleibt Verhandlungsmasse
Für Dnevnik ist ein Nato-Beitritt der Ukraine eher unwahrscheinlich, seine Ankündigung jedoch effektiv:
„Die Sorge des Westens darüber, was dies bedeuten könnte, steht nicht an erster Stelle für die Ukraine. ... Aber sie ist sich dieser Sorgen bewusst und deshalb interpretiert Kyjiw Moskaus Säbelrasseln mit Atomwaffen als einen bereits bei früheren Überschreitungen vermeintlicher Moskauer roter Linien gesehenen Bluff. Die Frage ist, ob jemand das Risiko eingehen wird, dass man diesmal falsch liegt. Die Antwort darauf wird die weitere Entwicklung des ukrainischen Nato-Beitritts geben – und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie nicht nach Selenskyjs Wünschen verlaufen wird, unabhängig vom Ausgang der US-Wahlen. Sie kann vielmehr zum Joker werden, sobald man sich an einen Verhandlungstisch setzt.“
Der Kompromiss mit Putin rückt näher
Der Analyst Valentin Naumescu vertritt bei Contributors die Ansicht, dass nächstes Jahr ein Waffenstillstand ausgehandelt wird:
„Wenn sich bereits 40 Prozent der Ukrainer für Gespräche mit Russland aussprechen, dann können wir uns vorstellen, wie hoch der tatsächliche Anteil der zu Kompromissen mit Putin bereiten Friedensbefürworter in den westlichen Gesellschaften ist. ... Der jetzt kommende Winter wird der letzte große Test für Selenskyjs Ukraine sein und vielleicht der schwierigste. … Ich werde niemals sagen, dass die Ukraine vergeblich gekämpft hat, im Gegenteil. Der heldenhafte und würdige Widerstand der Ukraine hat die Basis gelegt für das europäische, freie, unabhängige und entwickelte Land, das es nach dem Krieg geben wird. Auch wenn es dann eine kleinere Ukraine sein wird.“
Niederlage-Plan wäre ein heilsamer Gegenentwurf
Laut Politiken braucht die Ukraine einen pessimistischen Plan B:
„Der Siegesplan ist größtenteils ein Wunschzettel, der auf wackeligen Voraussetzungen fußt. ... Bei sämtlichem Reden über einen militärischen Sieg der Ukraine geht man davon aus, dass die USA weiterhin massiv Waffen liefern. Lasst uns den Tatsachen ins Auge blicken: Eine ukrainische Niederlage droht. Wenn Europas führende Politiker an dieser Aussicht ernsthaft etwas ändern wollen, müssen sie sich zusammensetzen und einen Niederlage-Plan erstellen, sodass die Konsequenzen einer ukrainischen Niederlage für alle offensichtlich werden. Dies könnte möglicherweise Verteidigungsbereitschaft und Realismus stärken.“
Erfolgsrezept Beharrlichkeit
Politologe Wolodymyr Fessenko erklärt in NV Selenskyjs Verhandlungsstrategie gegenüber dem Westen:
„Selenskyj ist ein Maximalist. Er legt die Messlatte unserer politischen Forderungen bewusst höher, auch wenn er weiß, dass es keine sofortige Antwort geben wird. In den zweieinhalb Jahren des Krieges hat er sich bereits daran gewöhnt, dass man uns erst 'nein' sagen kann, dann 'wir denken darüber nach' und letztendlich 'ja'. Aber der erste Schritt besteht darin, unseren Partnern eine konkrete Lösung vorzuschlagen und dann beharrlich Druck auf sie auszuüben. Das ist im Großen und Ganzen die Methode, die wir seit Beginn des groß angelegten Krieges anwenden.“
Atombomben herbeireden ist der falsche Ansatz
Anspielungen auf eigene Atomwaffen schaden der Ukraine nur, schlussfolgert Unian:
„In der jetzt wirksam werdenden Zeit des 'Interregnums' in den USA, wenn die alte Regierung bald gehen wird und die neue erst später antritt, beginnen offensichtlich viele Länder (besonders Diktatoren), sich 'dreister' zu verhalten. Denn egal, wer gewinnt, danach wird es einen Neustart der Beziehungen geben. ... Kyjiw macht es richtig, wenn es sich ebenfalls aktiver und 'dreister' benimmt. Aber das Ziel wurde nicht richtig ausgewählt. Vielleicht wäre es pragmatischer, russische Ölterminals im Schwarzen Meer anzugreifen und dann die neue US-Regierung um Verzeihung zu bitten, statt Anspielungen auf Atomwaffen zu machen, die wir nicht haben und in naher Zukunft auch kaum bekommen werden?“