Assads Foltersystem vor aller Augen: Was folgt?
Mit dem Sturz von Machthaber Assad haben sich die Tore von Gefängnissen und Folterkammern geöffnet, im ganzen Land wurden Massengräber entdeckt. Insbesondere das Saidnaya-Gefängnis, in dem zehntausende Menschen verschwanden, gefoltert und ermordet wurden, zeigt sich die ganze Grausamkeit des Regimes. Kommentatoren fragen sich, wie es nach derartigen Entdeckungen weitergehen könnte.
Keine Gerechtigkeit ohne Rechenschaft
Vorschläge, was jetzt zu tun ist, macht die Tageszeitung Welt:
„Die Zeit drängt. Erstens muss verhindert werden, dass unbedacht wichtige Dokumente zerstört werden, wenn die Bürger etwa Geheimdienstbüros oder Regierungsgebäude stürmen. Es sind also Beweise zu sichern. Zweitens müssen schnell Vermisstensuchstellen installiert werden, die Zugriff auf diejenigen Akten bekommen, die Informationen über Gefangene enthalten. Drittens müssen Gefängnisse unter Schutz gestellt werden. Später können sie, wie der syrische Menschenrechtsanwalt Anwar al-Bunni vorschlägt, zu Gedenkorten umgestaltet werden. Viertens brauchen die Überlebenden medizinische Hilfe und psychologische Betreuung. Es gibt keine Gerechtigkeit ohne Rechenschaft.“
Aufarbeitung beginnt nicht bei null
Auf rechtliche Konsequenzen hofft Corriere della Sera:
„Es gibt Menschen, Verbände und NGOs, die seit Jahren auf diesen Moment gewartet haben. Sie wussten nicht, ob er je kommen würde, aber sie sammelten unermüdlich Zeugenaussagen, Satellitenfotos und Videos aus sozialen Medien. Sie katalogisierten sie, benannten die Gesichter, verglichen die Ortsangaben, suchten Geolokalisierungen und erstellten Karten. ... Alles aus der Ferne, weit weg von den Schergen des Muchabarat, des syrischen Geheimdienstes. Und nun, da der Moment gekommen ist, das Regime sich aufgelöst hat und Assad mit seinen Milliarden in Moskau ist, wissen sie, wo sie suchen müssen. ... Die Hoffnung besteht darin, Assad und seine Anhänger für die von ihnen begangenen Verbrechen verurteilen zu können.“
Ein perfides System
Le Soir wirft einen Blick in die Hölle:
„Die ersten Bilder aus dem Inneren des Gefängnisses zeigen Zellen in erbärmlichem Zustand: mit Dreck bedeckte Wände, fensterlose Räume, in denen sich Dutzende Gefangene ohne eine einzige Matratze zusammenzudrängen schienen. ... Hinrichtungen fanden zu Dutzenden statt, wobei die Gefangenen nebeneinander aufgehängt wurden. ... Einige Gefangene haben von der Existenz von 'Salzkammern' in Saidnaya berichtet. Dort bewahrten die Wärter die Leichen auf, bevor sie sie auf Lastwagen zu den Massengräbern luden. Manchmal brachten die Folterer jedoch auch Gefangene dorthin, die dann bis zur Wadenmitte in Salz eingeschlossen und von Leichen umgeben waren. Heute, da sich die Tore zur Hölle öffnen, fürchten sich viele davor, das wahre Ausmaß der weit verbreiteten Folter durch das Assad-Regime zu erfahren.“
Alltägliches neben Erschütterndem
Volkskrant-Kolumnist Frank Heinen sinniert über die Banalität des Bösen in dem, was Fotos zeigen, und in dem, was man nicht sieht:
„Assad liegend auf dem Sofa. Assad in einer weißen Unterhose in der Küche. Assad auf einem Fahrrad. Alltäglich, nichts Besonderes. Nirgendwo eine Spur des entsetzlichen Ortes, der Syrien unter Assads Führung war. … [Bei Fotos] geht es um den Kontext. Ein Foto aus Saidnaya, dem 'Schlachthaus', wo zehntausende Menschen eingesperrt und gefoltert wurden, zeigt Stücke von Tauen auf dem Boden, ein schmutziger Boden. ... Erst in Verbindung mit den Erzählungen von barbarischen Foltermethoden werden die Taustücke zum Strang.“
Der Sturz des Diktators könnte Kraft geben
Die gesellschaftliche Katharsis bietet Chancen, meint der Außenpolitikexperte Botond Feledy in Új Szó:
„Wenn die neue Regierung nicht schnell eine internationale Legitimität gewinnt, könnte das Land leicht in einen neuen Bürgerkrieg zurückfallen. ... Gleichzeitig ist es ein seltener Moment in der Geschichte, wenn ein Volk frei in den Gefängnisfluren, Leichenhallen und Folterkammern eines gerade gestürzten Diktators herumgehen kann. Wir können uns diese tiefgreifende Ebene der Befreiung von Europa aus kaum vorstellen. ... Darin könnte eine Menge gesellschaftliche Energie stecken, die eine sanfte Führung kanalisieren könnte. Die Weltgeschichte gibt uns nicht viel Grund zu Optimismus, aber wir werden sehen, ob Syrien intakt bleibt, und wenn ja, in wessen Händen.“