Deutschland nach der Wahl: Was folgt für Europa?

Nach der Bundestagswahl am Sonntag wird der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz vermutlich Gespräche mit der SPD führen. Zusammen verfügen beide Parteien über eine Mehrheit im neuen Bundestag. Europas Medien erörtern, was dies für Deutschlands Rolle auf dem Kontinent bedeuten könnte.

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Handelsblatt (DE) /

Kanzlerprofil: Führen zwischen Imperialisten

CDU-Chef Merz muss ein starker europäischer Kanzler werden, wünscht sich das Handelsblatt:

„In der EU warten fast alle darauf, dass Deutschland seine Rolle als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt wieder politisch ausfüllt, dass es die EU in eine neue Ära leitet, in der sie sich auf die USA nicht mehr verlassen kann, da der große Bruder nun seine eigenen, sonderbaren Wege geht. Die EU muss selbstbewusst, einig und stark werden, wenn sie nicht zerrieben werden will zwischen den Imperialisten Wladimir Putin und Donald Trump. Merz wird dabei eine Führungsrolle übernehmen müssen.“

La Stampa (IT) /

Schluss mit der deutschen Abwesenheit

La Stampa wünscht sich ein international wieder präsenteres Berlin:

„Während Europa sich in seinen Beziehungen zu den USA mit der schwersten Krise der Nachkriegszeit konfrontiert sah, war die deutsche Regierung in Auflösung begriffen. Die gestrige Wahl ist der Anfang vom Ende einer Abwesenheit, die Deutschland und Europa zum Nachteil gereicht hat. ... Friedrich Merz wird die Verantwortung zufallen, die Speerspitze der europäischen Antwort auf die Trump-Administration zu sein und eine störrische EU zusammenzuhalten. Wird er dieser Aufgabe gewachsen sein? Man kann mit dem Amt wachsen: Ein anfänglich unterschätzter Vorgänger, Helmut Kohl, war der Architekt der deutschen Wiedervereinigung und ein Hauptakteur bei den geopolitischen Umwälzungen von 1989 bis 1991.“

Kurier (AT) /

Bedarf für eine Stimme mit Gewicht

Auch der Kurier drückt seine Hoffnung aus, dass Merz Trump die Stirn bieten wird:

„Nach dem Zögern und Zaudern seines Vorgängers Olaf Scholz wird Friedrich Merz mitsamt seiner wie immer gearteten Koalitionsregierung den Deutschen endlich beweisen müssen, dass Politik in der Lage ist, etwas zu bewegen. Und auch in der EU ist der Wunsch nach einer stärkeren, gewichtigen deutschen Stimme groß. Der Kanzler der größten europäischen Volkswirtschaft hätte durchaus die Kraft, so er denn will und sich traut, dem Treiben von Trump und Co. ein selbstbewusstes 'So nicht!' entgegenzuhalten. Sonst macht der US-Präsident mit einem hilflos schwachen Europa letztlich wirklich, was er will.“

Naftemporiki (GR) /

Bürger haben andere Prioritäten

Es ist noch nicht gesagt, dass Deutschland sich nun wirklich für die EU als Ganzes ins Zeug legen wird, schränkt Naftemporiki ein:

„Merz verspricht einen neuen, paneuropäischen Führungsstil, sagt aber auch 'Deutschland zuerst' und folgt – als 'Atlantiker' – der Politik Trumps. Immerhin sehen nur 1 Prozent der Deutschen Europa als Priorität an. Ein Gefühl, das durch den starken Aufstieg der AfD noch verstärkt werden wird. Aber der Rechtsruck der deutschen Politik könnte die Entstehung eines ‘Europas der zwei Geschwindigkeiten‘ beschleunigen. In Nordeuropa wird bereits viel über eine sogenannte 'Hanse 2.0' gesprochen – die Bildung einer Gruppe von Ländern mit gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen, geringerer Staatsverschuldung und Raum für Investitionen in Innovationen.“

Serhij Taran (UA) /

Chance auf mehr Sicherheit

Politologe Serhij Taran zeigt sich in Facebook über den Wahlausgang erleichtert:

„Der globale Wahnsinn hat noch nicht alle Länder ergriffen. Der gesunde Menschenverstand bleibt der Haupttrend in Europas größter Wirtschaft, was auch Hoffnung für die Zukunft der EU gibt. Auch die Hilfe für die Ukraine wird zumindest nicht eingestellt. Wir werden natürlich keine deutschen Truppen im Donbas sehen, aber es wird Geld und Waffen geben. Die Hauptsache wäre, dass Merz' Worte über die europäische Sicherheit zu einer radikalen Erhöhung des Militärhaushalts und der Rüstungsaufträge führen. Wenn das geschieht, bekommt Europa die reale Hoffnung auf eine – wenn auch langsame – Schaffung eines alternativen Sicherheitssystem, unabhängig von den USA.“

Newsweek Polska (PL) /

Innere Probleme könnten Europapolitik ausbremsen

Merz ist die letzte Chance der etablierten Mitte in Deutschland, schreibt Newsweek Polska:

„Sicherlich ist Merz, was die Sicherheitspolitik oder die Unterstützung der Ukraine angeht, nicht die schlechteste Wahl für Polen. Gleichzeitig bleibt abzuwarten, ob das Ausmaß der innenpolitischen Probleme die neue Regierung nicht so überfordern wird, dass ihr nicht viel Zeit für eine aktive Europapolitik bleibt. Zumal Merz und seine Koalitionspartner wissen, dass es bei der nächsten Wahl vielleicht nicht mehr gelingen könnte, die AfD hinter der Brandmauer zu halten, wenn sie nicht liefern.“