Trauer um Kreml-Kritiker Nemzow
Nach dem Mord an dem russischen Oppositionspolitiker Boris Nemzow haben am Sonntag in Moskau Zehntausende an einem Trauermarsch teilgenommen. Der Kremlkritiker war am Freitag im Zentrum der russischen Hauptstadt erschossen worden. Kommentatoren schreiben Putin eine moralische Verantwortung für den Mord an Nemzow zu und sehen die Hoffnung auf eine demokratische Zukunft in Russland weiter schwinden.
Attentat begräbt Hoffnungen der Opposition
Mit dem Tod Boris Nemzows sterben in Russland auch die letzten Hoffnungen auf Veränderungen, fürchtet der linksliberale Tages-Anzeiger mit Blick auf die Demonstration vom Sonntag: "Die Demonstranten wollten sich gestern nicht einschüchtern lassen vom Gesinnungsterror des Putin-Regimes. Doch es wurden keine Losungen skandiert, keine Forderungen formuliert, der Marsch brachte vielmehr eine erdrückende Trauer zum Ausdruck. Nicht nur, weil es ein Gedenkmarsch für Nemzow war, sondern auch, weil viele Demonstranten ihre Hoffnungen zu Grabe getragen haben, dass sich in Russland in den nächsten Jahren etwas zum Besseren wenden werde. Es waren viele ältere Menschen unter den Demonstranten, die nach dem Untergang der Sowjetunion geglaubt hatten, Russland habe eine neue, eine freie, eine demokratische Zukunft vor sich. Für sie blieb der einst aufstrebende junge Politiker Nemzow bis zum Schluss ein Hoffnungsträger. Sein Tod bestätigt ihnen nun, was sie eigentlich längst wissen: Es gibt keine Alternative für Russland."
Putin ist moralisch verantwortlich
Russlands Präsident Wladimir Putin hat den Mord zwar nicht angeordnet, er trägt aber die moralische Verantwortung dafür, weil ein Menschenleben bei ihm nichts zählt, findet Adam Szostkiewicz vom linksliberalen Portal Polityka Online: "Die Führungsriege um Putin ignoriert die Aussagen westlicher Politiker und Medien über das Verbrechen. Und die Mehrheit der Russen, die für Putin ist, weiß nichts davon, weil sie keine westlichen Sprachen spricht. Zudem interessiert sie sich nicht für die Meinung des Westens. Sie lebt in ihrer russischen Welt und lässt sich von keinem Verbrechen erschrecken - genauso wenig wie Putin. ... Ich glaube zwar nicht, dass der Kreml die Exekution direkt angeordnet hat. Doch dürfte die bisherige Politik Putins eine Atmosphäre geschaffen habe, die solch ein Verbrechen überhaupt erst möglich macht."
Russen sollten sich Beispiel an Nemzow nehmen
Am Tatort in Moskau haben trauernde Bürger Schilder mit der Aufschrift "Je suis Boris - wir alle sind Nemzow" aufgestellt. Die konservative Tageszeitung Lidové noviny kann diesem Bekenntnis nur schwer Glauben schenken: "Diese Aussage ist eine große Übertreibung. Wäre tatsächlich jeder Russe ein Boris Nemzow, dann würde das Land anders aussehen. Dann müssten sich die Russen damit auseinandersetzen, wie man das Land verändern kann. Sie müssten auch über die Wurzeln der derzeitigen Krise nachdenken - über die Sanktionen, die Kapitalflucht und über 'Putins sinnlose Aggression gegen die Ukraine'. So hatte es Nemzow in seinem letzten Interview ein paar Stunden vor seiner Ermordung formuliert. Mit dieser Meinung stimmen nicht viele Leute in Russland überein, geschweige denn alle."
Mord wird wohl nie aufgeklärt werden
Der Mord an Boris Nemzow wird wie frühere Anschläge auf andere russische Kreml-Kritiker wohl nie aufgeklärt werden, fürchtet die konservative Sonntagszeitung The Sunday Times: "Russlands Präsident Wladimir Putin hat erklärt, dass er persönlich die Untersuchung des Mordes an einem seiner mutigsten und überzeugendsten politischen Gegner leiten wird. Da wird der Bock zum Gärtner gemacht. Der Leiter der staatlichen Untersuchungskommission hat die Ermittlungen bereits von einer möglichen Beteiligung des Kreml weggelenkt, indem er behauptete, ein mögliches Motiv sei eine Destabilisierung Russlands. Nemzow zählte zu genau jener Art von Politikern, die Russland brauchte und immer noch braucht. ... Nemzow ist tot - ein mutiger Mann, der sich Besseres verdient hatte. Gut möglich, dass wir nie erfahren werden, wer den Abzug betätigt hat."
Kreml wirft schon Propaganda-Maschine an
Der Kreml verzerrt mit seiner Propagandamaschinerie gezielt die Hintergründe des Mordes an Boris Nemzow, glaubt die linksliberale Tageszeitung Der Standard: "Eine großangelegte Desinformationskampagne unter anderem mit der Aktivierung hunderter Bot-Konten auf Twitter mit den zwei gleichen Sätzen: 'Nemzow haben die Ukrainer umgebracht. Angeblich hat er irgendeinem Ukrainer die Freundin ausgespannt.' Wie absurd das auch klingen mag - es geht dabei nicht um Glaubwürdigkeit. Ziel der Medienstrategie des Kremls ist es, wie Insider schon vor Ausbruch der Ukraine-Krise enthüllt haben, ein Klima zu schaffen, in dem die Menschen nichts mehr glauben, alles für möglich halten und folglich für jede noch so haarsträubende Verschwörungstheorie empfänglich sind, und zwar nicht nur in Russland, sondern auch im Westen."