Estlands Premier braucht neue Partner
Nach dem Wahlsieg der westlich orientierten Reformpartei am Sonntag führt Premier Taavi Rõivas mit vier Parteien Vorgespräche über eine Regierungsbildung. Eine Koalition mit der als russlandfreundlich geltenden Zentrumspartei, die zweitstärkste Kraft geworden war, schloss er aus. Kommentatoren erklären deren gutes Abschneiden mit der sozialen Lage im Land und warnen die neue Regierung davor, die Anliegen der ethnischen Russen zu ignorieren.
Rõivas sollte sich um estnische Russen kümmern
Nach seinem Wahlsieg vom Sonntag muss Estlands Ministerpräsident Taavi Rõivas vorrangig die Spannungen mit der russischen Minderheit im Land lösen, meint die liberal-konservative Neue Zürcher Zeitung: "Auch 25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion haben viele ethnische Russen in Estland keine Staatsangehörigkeit, sie sind 'Nichtbürger' und somit Bewohner zweiter Klasse, besonders im Arbeitsleben. Ihre Anliegen, sowie die der gesamten russischen Minderheit, vertritt bis anhin nur die Zentrumspartei. Bis auf drei Sitze konnte sie nun an Rõivas' Reformpartei heranrücken - einerseits, weil sie mit populistischen Forderungen wie der Verdreifachung des Mindestlohns auf Stimmenfang ging, andererseits, weil ihr die Stimmen der ethnischen Russen quasi sicher sind. Das gute Wahlergebnis nützt der Zentrumspartei jedoch wenig, mit ihr wird weiterhin keine Partei koalieren. Auf Dauer gesehen kann es aber gefährlich werden, die Anliegen der ethnischen Russen derart zu ignorieren."
Erfolg der Zentrumspartei sozial begründet
Dass die als moskaufreundlich geltende linke Zentrumspartei so stark zulegen konnte, ist kein geopolitisches Wählerurteil, sondern ein sozial begründetes, meint die linke Tageszeitung taz: "Mag Estland in einer kriselnden Eurozone immer wieder gern schon deshalb als Vorbild genannt werden, weil die Kennzahlen ein über dem Durchschnitt liegendes Wirtschaftswachstum vermelden: Die Wahrheit für die breite Bevölkerung sieht ganz anders aus. Nur bei einer schmalen Oberschicht kommt dieses Wachstum in Form steigender Einkommen und Vermögen an, das Gros der EstInnen geht leer aus. Die Realeinkommen sind seit acht Jahren nicht gestiegen, die Arbeitslosigkeit hat sich dagegen fast verdoppelt und die Emigration ist stetig gewachsen, weil immer mehr junge und gutausgebildete Leute keine Zukunft mehr in ihrer Heimat sehen. In den tiefer werdenden sozialen Gräben dürfte man auch Antworten auf die Frage finden, warum ... die Zentrumspartei zulegen konnte."
Neue Koalition muss mehr Jobs schaffen
Estland braucht eine liberalere Wirtschaftspolitik, um unter anderem mehr Arbeitsplätze zu schaffen, fordert die Wirtschaftszeitung Äripäev: "Die Steuerpolitik muss die Schaffung von gutbezahlten Arbeitsplätzen fördern, denn diese tragen zum schnellen und ständigen Wirtschaftswachstum bei. Auf lange Sicht würden dann auch die Niedriglöhne steigen. Heute ist es in Estland teurer, neue Arbeitsplätze zu schaffen als in mehreren Nachbarländern. Wir haben oft gesagt, dass die Deckelung der Sozialbeiträge die schnellste und effektivste Lösung wäre. Vor drei Jahren hat der heutige Premier Taavi Rõivas versprochen, bis 2014 die Sozialabgaben bei Gehältern ab 4.000 Euro brutto zu deckeln. Das ist nicht passiert. ... Man müsste die Einwanderungsquote wesentlich erhöhen. Bedenkt man die demografische Situation, in der die Bevölkerung Estlands wegen Auswanderung und Alterung ständig zurückgeht, ist dies auf lange Sicht unausweichlich."