Flüchtlinge ertrinken auf dem Weg nach Kos
Das Bild eines ertrunkenen Kleinkindes am Strand vom türkischen Bodrum ist am Mittwoch in den sozialen Netzwerken verbreitet worden. Der Junge und mindestens zehn weitere Menschen starben bei dem Versuch, per Boot auf die griechische Insel Kos zu gelangen. Das Foto zeigt brutal das Versagen der EU in der Flüchtlingskrise, schreiben einige Journalisten. Andere machen die Türkei für den Tod des Kindes mitverantwortlich.
Europas kollektive Schande
Tief bestürzt über die Szenen am Strand von Bodrum und wütend über die EU-Politik äußert sich die liberal-konservative Tageszeitung Diário de Notícias: "Die Leiche des kleinen Jungen liegt im Sand bis sie von einem Polizisten aufgehoben und fortgetragen wird. Spätestens dann kann man die Brutalität, die Abscheulichkeit und Gleichgültigkeit einfach nicht mehr ertragen: unsere individuelle und kollektive Schande, Politiker, die mitten in solch einer Tragödie zur Ruhe aufrufen und sich mit dieser Aufforderung zu Komplizen machen. Wir werden diesen verdammten türkischen Strand, der auch ein Strand in Griechenland, Italien oder Portugal sein könnte, nicht so schnell vergessen. ... Es passiert gerade hier, vor unserer Haustür. Kinder, Frauen und Männer sterben täglich im Mittelmeer - und das kann nur die Wut gegenüber der sinnlosen Politik Europas steigern. Diese Krise dauert schon seit über einem Jahr an und nichts, oder nur sehr wenig, hat sich auf dieser und auf der anderen Seite der Grenze verändert."
Türkei trägt Mitschuld an Flüchtlingsdrama
Das Foto der Leiche des dreijährigen Aylan sollte die Türken wachrütteln, plädiert die liberale Internetzeitung T24: "Das einzige, was diese Flüchtlinge wollten, war ein besseres Leben für ihre Kinder. Doch so ein bequemes Leben haben sie in der Türkei nicht erlebt. Man vermietete ihnen Wohnungen zum doppelten Preis, ließ ihre Kinder arbeiten, damit sie satt werden und zwang ihre Frauen dazu, ihre Körper zu verkaufen. Die Syrer leben seit vier Jahren in diesem Land ohne irgendeine gesetzliche Sicherheit, ihre Arbeit und Körper werden ausgenutzt, sie sind jeder Art von Rassismus, Diskriminierung und Belästigung ausgesetzt. Und weil das riesige Land davon in jeder Hinsicht profitiert, schweigt jeder. ... Aylan haben wir verloren, aber wir können wenigstens verhindern, dass in Zukunft weitere syrische Kinder im Mittelmeer ertrinken. Indem wir uns mit ihnen solidarisch zeigen, uns gegen die Unterdrückung stellen, die sie erfahren, und danach streben, ihnen einen dauerhaften Status zu geben, der es ihnen erlaubt, in diesem Land wie Menschen zu leben."
Den Blick nicht vom Elend abwenden
Das Bild des toten Kleinkinds, dessen Körper am Strand von Bodrum angespült wurde, hat sich am Mittwoch rasend schnell in den sozialen Medien verbreitet. Mario Calabresi, Chefredakteur der liberalen Tageszeitung La Stampa, verteidigt seine Entscheidung, es auch auf die Titelseite gebracht zu haben: "Euch dieses Bild zu verheimlichen hätte bedeutet, den Blick abzuwenden und so zu tun, als wäre nichts geschehen. Hätte ich anders entschieden, hätte ich uns nur hinters Licht geführt, um uns einen weiteren Tag ruhiger Ahnungslosigkeit zu bescheren. Deshalb habe ich meine Meinung geändert: Der Respekt für dieses Kind, das mit seinen Geschwistern und Eltern vor einem Krieg floh, der vor unserer Haustür ausgetragen wird, verlangt, dass wir alle es wissen. Der Respekt verlangt, dass jeder von uns einen Moment innehält und sich bewusst wird, was auf dem Strand an dem Meer geschieht, an dem wir unsere Ferien verbrachten. Danach könnt ihr euer Leben wieder aufnehmen, vielleicht empört über meine Entscheidung, doch nicht mehr unwissend."
Ausmaß der Krise endlich anerkennen
Ein außerordentlicher EU-Gipfel ist nun endlich notwendig, fordert die linksliberale Tageszeitung El País angesichts der Bilder des toten Flüchtlingskinds an der türkischen Küste: "Zunächst müssen die Politiker das Ausmaß des Themas anerkennen und offen aussprechen, dass die Flüchtlingswelle neuartige und umfassende Maßnahmen erfordert. Nur wenn die Diagnose korrekt gestellt wird, kann die richtige Behandlung gefunden werden. Die Staats- und Regierungschefs müssen ein Gipfeltreffen abhalten - und nicht nur die Innen- und Justizminister, wie für den 14. September vorgesehen. Dort muss man die Situation auswerten und so schnell wie möglich kurz- und mittelfristige Maßnahmen ergreifen. Dazu gehören wirtschaftliche und geostrategische Ansätze, um auch die Ursachen des Problems anzugehen. Europa kann seinen Weg und einen Teil seiner Legitimation wiedererlangen, wenn es ihm gelingt, diese Herausforderung anzugehen. Das ist der einzig mögliche Ausweg."