Absolute Mehrheit für Erdoğans AKP
Bei der Neuwahl in der Türkei am Sonntag hat die islamisch-konservative AKP die absolute Mehrheit im Parlament zurückerobert. Einige Kommentatoren hoffen, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan für Ruhe und Frieden im Land sorgen wird, nun da er sein Ziel erreicht hat. Andere fürchten, dass sich die Türkei noch weiter von der Demokratie entfernt.
Erdoğans Sieg kommt Türkei teuer zu stehen
Der überraschend deutliche Wahlsieg der türkischen AKP bei der Neuwahl wurde auf Kosten der Stabilität in der Türkei errungen, warnt die linksliberale Tageszeitung The Guardian: "Präsident Recep Tayyin Erdoğan hat seine Mehrheit zurück, aber die Türkei hat im Zuge des Wahlkampfs Schaden genommen. Ihre unabhängigen Institutionen wurden ausgehöhlt, verfassungsrechtliche Regeln missachtet, die Beziehung zwischen ethnischen Türken und Kurden hat sich verschlechtert und das Land ist erneut in einen Krieg verwickelt, von dem es dachte, dass er vorbei sei. Es ist typisch für Erdoğan, dass er mit seinem Amtsantritt als Präsident nicht die über der Politik stehende zeremonielle Stellung eingenommen hat, die er laut Verfassung haben sollte. Er wird weiter versuchen, den Wandel durchzusetzen, den er für richtig erachtet. Und wenn das nicht geschieht, wird er so tun, als ob der Wandel schon geschehen wäre. Es ist leider unwahrscheinlich, dass die Türkei nach dieser Wahl auf ruhigere Zeiten zusteuert."
Wunsch nach Sicherheit überlagert alles andere
Nun, da die Strategie von Präsident Erdoğan aufgegangen ist, sollte er das Land wieder in ruhige Gewässer steuern, fordert der Kolumnist Orhan Bursalı in der kemalistischen Tageszeitung Cumhuriyet: "Die Umfragen lagen alle falsch, aber einen Punkt haben sie getroffen: Für die Wähler stand Sicherheit im Vordergrund! Alle anderen Probleme traten dagegen in den Hintergrund. ... Sozial- und Politikwissenschaftler analysieren immer wieder, dass Wähler in Zeiten von Chaos und Krieg hinter der Regierungspartei stehen. ... Wird die AKP nach der Wahl nun ihre Politik der Repression fortführen und noch autoritärer werden? Ich hoffe, das Gegenteil wird der Fall sein. Ich hoffe, Erdoğan lockert seine kriegerische Politik. Denn seine größte Angst war es, entmachtet zu werden. Diese Gefahr ist nun verschwunden. Die Wirtschaft gibt der AKP keine Gelegenheit eine noch tyrannischere Politik zu verfolgen."
Türkei weiter auf Abwegen
Die Chancen, dass sich die Türkei nun modernisiert, sind mit der absoluten Mehrheit für die AKP noch geringer geworden, fürchtet die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Soll sich in der Türkei etwas bessern, müsste sich zunächst die wichtigste Partei des Landes reformieren. Will oder kann sich die AKP nicht von Erdoğan emanzipieren, wird sie für die Bemühungen um eine Demokratisierung des Landes hingegen ausfallen. Niemand in der AKP ist stark genug, um sich allein gegen Erdoğan zu stellen, doch eine Gruppe um den früheren Staatspräsidenten Abdullah Gül und Erdoğans einstigen Stellvertreter Bülent Arınç könnte diesen Kampf aufnehmen. Wagt sie das nicht, wird die AKP noch stärker als bisher zum reinen Machterhaltungsapparat verkommen. Auf diesem Weg ist sie erschreckend weit gekommen, im Schlepptau das Land. Nach der Wahl steht zu befürchten, dass die AKP diesen verhängnisvollen Weg fortsetzen wird."
Europa ist insgeheim froh über AKP-Sieg
Europa ist im Grunde erleichtert über den Sieg von Erdoğans AKP, konstatiert die liberal-konservative Tageszeitung Corriere della Sera: "Im Inland hat Erdoğan seiner Strategie der Angst freien Lauf gelassen. ... Gleichzeitig hat er Partei gegen die Terrormiliz IS ergriffen und ist zum Schiedsrichter der Syrien-Verhandlungen geworden. Eine Führungskraft, die auf internationaler Ebene wieder Boden gewinnt, während sie im Inland wenig Skrupel zeigt, die Wähler einzuschüchtern, hatte große Chancen, zu siegen. … Ein Europa, das an seine Werte denkt, hätte sich eine partielle Niederlage von Erdoğan und eine Koalitionsregierung wünschen müssen. Das Europa, das an seine Sorgen denkt und welches Angela Merkel bei ihrem Besuch vor zwei Wochen vertrat, hat heimlich zu Erdoğan gehalten. ... Nun haben die Wähler gesprochen und Erdoğan hat gesiegt. Kein Grund zu jubeln. Denn wenn wir ein so großes Bedürfnis nach einem Autokraten haben, ist es ganz allein unsere Schuld."