Steht Schengen vor dem Aus?
Angesichts hundertausender Flüchtlinge haben mehrere Schengenstaaten vorübergehende Grenzkontrollen eingerichtet. Eine dauerhafte Schließung von Grenzen könnte die Wirtschaft nach Einschätzung französischer Experten mehr als 100 Milliarden Euro kosten. Ist das grenzenlose Europa noch zu retten?
Europa hat nur schlechte Wahlmöglichkeiten
Mauern und Zäune werden Europa nicht retten, weiß die konservative Tageszeitung Kathimerini:
„Es ist unmöglich, in unserer Zeit Mauern zu bauen, um Europa als imaginäre christliche Festung aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite ist aber auch klar, dass der Islam mit europäischen Werten weitgehend nicht kompatibel ist und dass es große Schwierigkeiten gibt, die Muslime in die europäischen Gesellschaften zu integrieren. Wir befinden uns an einem Scheideweg. Entweder wird Europa weiterhin mit kleinen Schritten und Kompromissen arbeiten und Widersprüche und Reibungen wie ein großer Schmelztiegel aushalten. Oder es wird Schritte rückwärts machen, wobei einzelne Länder in Isolationismus und Nationalismus fallen und somit das europäische Projekt auflösen.“
Kleine Staaten zahlen die Zeche
Der wahrscheinliche Zusammenbruch des Schengensystems hätte vor allem für exportorientierte Länder große Nachteile, warnt der Ökonom Zsolt Gál in der slowakischen Tageszeitung Új Szó:
„Wird die illegale Einwanderung nachlassen, und wird es gelingen, das Schengensystem soweit zu reformieren, dass es nicht zusammenbricht? Nach heutigem Stand sind beide Fragen mit Nein zu beantworten. Der Flüchtlingsstrom will nicht versiegen, und angesichts des schwerfälligen Systems der Entscheidungsfindung der EU ist nicht abzusehen, dass sich die Mitgliedsländer auf einen Kompromiss einigen werden, der der Flüchtlingsflut mit Gesetzen und einem effektiven Grenzschutz Einhalt gebietet. Es liegt auf der Hand, dass in solch einem Fall kleine EU-Staaten wie die Slowakei, die sehr exportorientiert sind, die Zeche zahlen würden, kämen doch die wie immer gearteten Ausfuhren an den Staatsgrenzen jedes Mal zum Stocken.“
Schengen könnte sehr bald Geschichte sein
Die Freizügigkeit innerhalb des Schengenraums könnte binnen Wochen zusammenbrechen, fürchtet der EU-Abgeordnete und Ex-Außenminister Urmas Paet in der liberalen Tageszeitung Eesti Päevaleht:
„Die Abkommen der EU mit der Türkei haben bisher keine Ergebnisse gebracht und die Lage in den Flüchtlingslagern ist bedrückend. Bisher funktioniert weder die gemeinsame Grenz- und Küstenüberwachung, noch das System der sogenannten blauen Karten für legale Einwanderung, noch gibt es eine einheitliche Asylpolitik. … Wir müssen unsere Politik dringend ändern. Denn wenn wir nicht bald etwas unternehmen, wird die Freizügigkeit im Schengenraum in den kommenden Wochen Geschichte sein. Europa befindet in einer außergewöhnlichen Lage und braucht außergewöhnliche Maßnahmen, um aus der Situation herauszukommen und den Zusammenhalt in der EU zu bewahren. Die einzige Möglichkeit, den Schengenraum zu erhalten, ist die schnelle Schaffung einer Europäischen Grenz- und Küstenüberwachung.“
Noch mehr Härte scheint unausweichlich
Der finnische Präsident Sauli Niinistö hat am Mittwoch gewarnt, dass Europa solch unkontrollierbaren Wanderungsbewegungen wie sie derzeit stattfinden nicht mehr lange aushält. Mit derlei Äußerungen könnte er einer noch strikteren Flüchtlingspolitik den Boden bereiten, fürchtet die Boulevardzeitung Iltalehti:
„Man muss an den Menschenrechten festhalten, aber so wie Niinistö muss man auch die mit der zunehmend unkontrollierbaren Einwanderung einhergehenden Probleme sehen. Man darf auch nicht die Augen davor verschließen, dass gerade die Flüchtlinge, die am meisten Not leiden, keine Hilfe bekommen. … Es wäre bedauernswert, wenn der Realismus des Präsidenten genutzt wird, um eine noch härtere Einwanderungspolitik durchzusetzen. Doch das wird wohl passieren. … Verteidigungsminister Jussi Niinistö hat die Rede bereits als klare Unterstützung für die rigidere Flüchtlingspolitik der Regierung interpretiert.“
Eckpfeiler des europäischen Projekts schützen
Europa - und mit ihm die portugiesische Regierung - muss um Schengen kämpfen, mahnt die linksliberale Tageszeitung I:
„Portugal profitiert, wie alle anderen Länder und Völker des europäischen Projekts, in vielerlei Hinsicht vom Schengenraum. Sein Ende wäre eine Katastrophe. Deshalb scheint es nur eine Option zu geben: für Schengen zu kämpfen. Auch unsere Regierung sollte dies tun, denn die übergeordneten Interessen der Nation verlangen dies. Schengen steht für Wirtschaft und Arbeitsplätze - also für viel mehr als Sicherheit oder gar einen Sicherheitswahn. Viele von denen, die gegen Schengen hetzen, sind die immer gleichen Euroskeptiker. ... Es ist bedauerlich, dass versucht wird, mit dem Gerede über Terrorismus, Wirtschaftsmigranten und die Flüchtlingsflut einen der Eckpfeiler des europäischen Projekts umzustoßen.“
Schlagbäume sind nicht das Ende Europas
Nicht überbewerten sollte man die Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengenraum nach Ansicht der christlichen Salzburger Nachrichten:
„Grenzkontrollen sind in Ausnahmefällen, sofern sie der EU-Kommission gemeldet werden, für einen bestimmten Zeitraum zulässig. Diesen Zeitraum hat bisher noch kein Land überschritten. Kontrollen an den Grenzen innerhalb des Schengenraums sind außerdem nicht damit gleichzusetzen, dass 'die Grenzen dicht gemacht werden'. EU-Bürger dürfen sich weiterhin frei über die Grenzen bewegen, ihr Recht auf Freizügigkeit erlischt nicht mit den Kontrollen. Auch Waren können innerhalb des Schengenraums ungehindert die Grenzen passieren. Und selbst ohne Schengen würde der Binnenmarkt funktionieren. Zum einen ist er älter als Schengen, funktionierte also schon davor. Zum anderen sind nicht alle Binnenmarktländer auch in der Schengenzone, wie etwa Großbritannien, das ein wichtiges Mitglied des Binnenmarktes ist.“
Nahost befrieden statt Grenzen schließen
Grenzschließungen sind nutzlos - nur ein Ende der Kriege im Nahen Osten wird dauerhaft die Zahl der Flüchtlinge nach Europa verringern, mahnt die Tageszeitung 24 Chasa:
„Das Flüchtlingsproblem muss an der Wurzel gepackt werden. Der Nahe Osten muss befriedet, der Bürgerkrieg in Syrien beendet und der IS zerstört werden. Russlands Provokationen müssen aufhören und die EU muss ihre Verpflichtungen gegenüber der Türkei erfüllen und umgekehrt. Eine neue Organisation des Flüchtlingsstroms muss her, denn die Dublin-Regeln sind nicht anwendbar. … All das wird Jahre dauern und selbst wenn wir Europäer die Herausforderung bewältigen, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass die Flüchtlingsmassen, die vor dem syrischen Bürgerkrieg fliehen, erst der Anfang sind. ... Wer glaubt, dass wir uns abschotten können, indem wir unsere Grenzen schließen, verschließt die Augen vor der Wirklichkeit.“
Grenzen für drei Jahre kontrollieren
Um Zeit in der Flüchtlingskrise zu gewinnen, sollte die EU das Schengen-Abkommen für eine Weile komplett aussetzen, schlägt das wirtschaftsliberale Handelsblatt vor:
„Der Zustrom von Flüchtlingen bedroht den Schengen-Raum, weil eine ausreichende Kontrolle der Außengrenzen nicht sichergestellt ist. Die im Abkommen festgelegte Zusammenarbeit der Polizeibehörden ist noch nicht da, wo sie sein müsste. ... Realistisch wäre es, alle Anstrengungen zur Sicherung der Außengrenzen, zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Polizei, zum Kampf gegen die Schlepperkriminalität, zur einheitlichen Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und für Regeln zur Aufteilung von Flüchtlingen zu verdoppeln. Dafür sollte man sich einen Zeitraum von sagen wir drei Jahren setzen. Während dieses Zeitraums sollte das Schengen-Abkommen ausgesetzt werden - von allen! Das ist nicht nur europapolitisch, sondern auch innenpolitisch geboten.“
Es darf kein Mini-Schengen geben
Der niederländische Premier Mark Rutte hat gefordert, dass Europa in zwei Monaten eine Lösung der Flüchtlingskrise haben muss. Doch sein Plan B - ein Mini-Schengen - wäre katastrophal, warnt die christlich-soziale Tageszeitung Trouw:
„Dieser Plan wäre eine Niederlage. Es geht um eine stark reduzierte Schengenzone, durch die das freie Reisen in Europa auf einige wenige Länder begrenzt wäre. Das an sich wäre schon schlimm genug. Doch vor allem droht dadurch auch die weitere Aushöhlung der EU. Auch der Binnenmarkt und der Euro drohen dann, ins Wanken zu geraten. ... Plan B darf keine Option sein. Die niederländischen EU-Ratsvorsitzenden müssen nun alle Energie aufwenden, um gemeinsam mit der Türkei aus dieser Sackgasse zu kommen. Gelingt das nicht, dann gibt es nicht nur eine Flüchtlingskrise, sondern auch eine europäische Krise.“
Mitgliedstaaten müssen sich dringend einigen
Die Partei Liberale Allianz in Dänemark schlägt vor, dass das Land zwei Jahre lang keine Asylsuchenden mehr aufnimmt und das gesparte Geld in Flüchtlingslagern im Nahen Osten einsetzt. Die konservative Tageszeitung Berlingske Tidende warnt die EU davor, weiter Zeit zu verlieren, da solche Vorschläge sonst drohen, Realität zu werden:
„Je länger es dauert, bis die EU sich einigt, desto mehr Länder werden eigene Lösungen finden, um sich zu schützen. Die Kontrollen werden feinmaschiger, bis man gar nicht mehr von freier Beweglichkeit und offenen inneren Grenzen sprechen kann. Das wäre zutiefst tragisch und schädlich für Zusammenarbeit und Wachstum in der EU. ... Zuerst einmal muss in Griechenland und Italien kontrolliert, sortiert und zurückgesandt werden. Wenn die Länder das allein nicht schaffen, müssen sie die Verantwortung der EU überlassen. Die Länder, die eine gemeinsame EU-Lösung blockieren, sind dafür verantwortlich, wenn andere Regierungen ihre Grenzen immer kreativer gegen die Völkerwanderung schützen.“
Europa hat es bisher noch immer geschafft
Allen Unkenrufen zum Trotz ist die liberale Tageszeitung Karjalainen überzeugt, dass die EU wegen der Flüchtlingskrise nicht scheitern wird:
„In ganz Europa hat sich die Einstellung gegenüber Flüchtlingen verhärtet. Um die Krise zu bewältigen, ist Kooperation nötig, denn allein schaffen die Staaten dies nicht. Finnland hat ebenfalls eine EU-Außengrenze und die Grenze Finnlands ist auch nicht mehr vollständig geschützt. Es gibt aber keinen Grund zu glauben, dass die EU wegen der Flüchtlingskrise auseinanderbrechen wird. Das sollte schon bei der Wirtschaftskrise geschehen, aber letztendlich hat sich die EU zusammengerauft und die Probleme gelöst. Es ist typisch für die EU, dass sie sich schwer auf etwas einigen kann, doch schließlich gelingt es - wenn auch in letzter Minute.“