Knappes Votum für Frankreichs Verfassungsreform
Die Nationalversammlung in Frankreich hat mit einem knappen Votum auch den zweiten Teil der Verfassungsreform verabschiedet. Damit kann verurteilten Terroristen künftig die französische Staatsbürgerschaft entzogen werden, sofern sie noch eine andere besitzen. In der Presse ist viel Kritik zu finden.
Rechte Mehrheit im Senat wird sich durchsetzen
Nach dem knappen Votum der Nationalversammlung für die von der Regierung angestrebten Verfassungsänderungen muss im März der Senat über diese entscheiden. François Hollande wird akzeptieren müssen, dass die Rechtsparteien ihre Version durchdrücken, meint die konservative Tageszeitung Le Figaro:
„Jetzt liegt alles in den Händen des Senats, in dem die Rechte eine Mehrheit hat. Der Präsident täte nicht gut daran, mit dem Finger auf den Senat zu zeigen, wenn er den Text des Parlaments wie geplant abändert. Was wünscht sich die Mehrheit im Senat, außer zum 'Geist von Versailles' zurückzukehren, das heißt zu dem, was ein gewisser François Hollande im Kongress versprochen hat? Wenn die Linke dies ablehnt, kann Hollande der Rechten nicht vorwerfen, die Reform sabotiert zu haben. Er wird anerkennen müssen, dass er zum Opfer eines Mehrheitsverlustes geworden ist.“
Gesellschaft wird weiter gespalten
Muslime und Einwanderer werden in Frankreich fortan unter Generalverdacht stehen, befürchten mehrere Anti-Rassismus-Organisationen, die im linken Webmagazin Mediapart gemeinsam einen Beitrag veröffentlicht haben:
„Wir sollten nicht glauben, dass diese symbolische Maßnahme sich nicht auf die Realität auswirkt. … Dass die französischen Terroristen zu Fremdkörpern werden, hat reale Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Indem die neue Regelung zu ungleichen Teilen auf uns lastet, wird das Thema Staatsbürgerschaft zu einer heiklen Angelegenheit. Denn wir ahnen: Wie immer werden französische Muslime, Bewohner der sozial schwachen Viertel und Kinder von Einwanderern zuerst verdächtigt, wieder einmal wird man sie spüren lassen, dass sie weniger französisch sind als andere, dass sie nicht 'zuhause' sind und nicht 'von hier' kommen. Die Terrorgefahr wird nationalisiert, die Gesellschaft wird rassifiziert.“
Passentzug bringt mehr Schaden als Nutzen
In der französischen Nationalversammlung hat am Freitag die Debatte über die Verfassungsreform begonnen. Die geplante Maßnahme, verurteilten Terroristen den Pass zu entziehen, hält die linksliberale Tageszeitung Le Quotidien für unverhältnismäßig:
„Welchen Sinn hätte mitten in Europa die Möglichkeit, einigen Bürgern die Staatsbürgerschaft zu entziehen? ... Keinen. Denn der Text über den Entzug der Staatsbürgerschaft betrifft nur wenige potentielle Personen - Terroristen, die bereit sind, sich für ihr Anliegen zu opfern. Die Staatsangehörigkeit hat für sie keinerlei Bedeutung, während sie für diejenigen sehr wichtig ist, die sich Tag für Tag um ihre Integration bemühen und darum, Teil der nationalen Gemeinschaft zu werden. ... Die Aberkennung der Staatsbürgerschaft ist ein Angriff auf den gesunden Menschenverstand. Und dessen werden sich die französischen Abgeordneten ungeachtet ihrer politischen Couleur einer nach dem anderen bewusst.“
Franzosen werden ihrer Freiheit beraubt
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat am Donnerstag den weiter andauernden Ausnahmezustand kritisiert und Menschenrechtsverletzungen angeprangert. Allen Grund zur Sorge sieht auch Thomas Hanke, Frankreich-Korrespondent des wirtschaftsliberalen Handelsblatts:
„Viel diskutiert wurde bislang der Entzug der Staatsangehörigkeit für Personen, die wegen Terrortaten 'oder einem schweren Schlag gegen die Nation' verurteilt wurden. Doch die Verfassungsänderung geht über diese Möglichkeit, die aus dem Fundus der rechtsextremen Front National stammt, weit hinaus. Sie erweitert dauerhaft das Arsenal der Polizeikräfte und erweitert den Rahmen für Einschränkungen der Freiheit etwa durch Hausarrest oder Inhaftierung. Die Stimmung in Frankreich hat sich durch die Terroranschläge vom November 2015 drastisch verändert. Nach den Anschlägen auf 'Charlie Hebdo' vor einem Jahr sorgten die Franzosen sich um ihre Freiheit. Das ist in den Hintergrund gerückt.“
Missbrauch von Angst
Die Regierung nutzt die Ängste der Franzosen schamlos aus, kritisiert die kommunistische Tageszeitung L'Humanité:
„Der Starrsinn der Regierung wirkt nicht mehr nur wie ein opportunistischer Sicherheitswahn, sondern wie eine autoritäre Versuchung, die darauf abzielt, die französische Gesellschaft zu erdrücken. François Hollande und [Premier] Manuel Valls fühlen sich durch ihren Zynismus gestärkt und sind überzeugt, dass ihre Demagogie, unwirksam aber spektakulär, ihnen helfen kann, ihre politischen Gegner zu schwächen, und gleichzeitig die Bürger beruhigt. … Angst lässt sich nutzen, um schöne Lügen aufzutischen: Terrorismus mache das Ende des Rechtsstaats nötig, Arbeitslosigkeit die Aufweichung des Arbeitsrechts, Zuwanderung, die Grenzschließung … Und die Gefahr des Front National schließlich soll rechtfertigen, dass die Linke sich hinter einer kümmerlichen Mehrheit sammelt, die im Vergleich zur Wählerschaft, die 2012 für einen Wandel gestimmt hat, nun in der Minderheit ist.“
Frankreich droht irreversible Spaltung
Der dauerhafte Ausnahmezustand wird die französische Gesellschaft noch tiefer spalten, warnt Soziologe Didier Fassin in der linksliberalen Tageszeitung Le Monde:
„Der Ausnahmezustand mündet nicht direkt in einen Polizeistaat, der allen Angst machen würde. Nein, die Pläne für eine Änderung des Strafrechts und für eine Verfassungsreform, deren wichtigste Aspekte banalisiert werden, führen zu einem Zustand der Segmentierung. Er spaltet die französische Bevölkerung in diejenigen, deren Sicherheit der Staat zu schützen vorgibt, und diejenigen, die bereits durch wirtschaftliche Ungleichheit und Rassendiskriminierung benachteiligt sind und deren Sicherheitslage nun weiter verschlechtert wird. Im Namen der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung wird also eine bereits bestehende soziale Schieflage weiter gefestigt. Dieser politische Zynismus wird zwangsläufig einen Preis haben: Das Erleben einer sich verstärkenden Ungerechtigkeit führt unweigerlich zu Groll. Und der wird die gesamte Gesellschaft eines Tages teuer zu stehen kommen.“