Hat der belgische Staat versagt?
Nach den Terroranschlägen Ende März in Brüssel werden immer mehr Pannen der Polizei- und Geheimdienstarbeit bekannt. Für viele Kommentatoren setzt sich damit die Serie des Versagens belgischer Behörden fort.
Terroristen freuen sich über Failed State
Am Brüsseler Flughafen Zaventem ist sechs Wochen nach den Terroranschlägen die Abflughalle wieder eröffnet worden. Doch die richtigen Lehren haben die Politiker noch lange nicht gezogen, meint Libération:
„50 Jahre Auseinandersetzungen zwischen flämischer und wallonischer Sprachgemeinschaft und Demontage des Zentralstaats zu Gunsten der Regionen haben das Königreich in eine Sackgasse geführt: Hilflosigkeit, Inkompetenz, Verantwortungslosigkeit. ... Doch die Politiker weigern sich, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen: Nach dem Verlust von Umfragepunkten an die rechtsextreme Vlaams Belang hat die stärkste Regierungspartei, die [flämisch-nationalistische] N-VA, nun den Ton verschärft. Allen Tatsachen zum Trotz behauptet die Parteispitze weiter, dass die Attentate das Scheitern des Zentralstaats bestätigt hätten und dass dessen Auflösung deshalb beschleunigt werden müsse. Da können sich Terroristen aller Couleur die Hände reiben: Gibt es für sie bessere Bedingungen als ein Fehlen des Staats?“
Belgien-Bashing ist unangemessen
Die Schuldzuweisungen in Richtung der belgischen Behörden sind vorschnell, kritisiert Politologe Didier Leroy in der linksliberalen Tageszeitung Le Monde:
„Wer Belgien systematisch schlecht macht, blendet die Tatsache aus, dass im Ausland rekrutierte Kämpfer ein globales Phänomen sind. Diese Art von Migrationsdynamik, die mit politischer Gewalt verbunden ist, hat es schon immer gegeben und wird leider fortbestehen. Die wirkliche Herausforderung, welche die Spezialeinheiten der betroffenen Staaten zu bewältigen haben, besteht in dem bislang ungekannten Ausmaß dieses Phänomens. Im Kontext des 'arabischen Feuers', welches derzeit in Syrien und im Irak lodert, hat es sich ausgeweitet. Diese rasante Entwicklung kann zweifellos der in den vergangenen Jahren exponentiell gestiegenen Bedeutung der sozialen Netzwerke bei der Informationsverbreitung zugeschrieben werden.“
In Belgien spiegeln sich die Fehler der EU
Der belgische Staat ist in seinem Aufbau der gesamten EU sehr ähnlich, was dieser eine Warnung sein sollte, analysiert der Ökonom Daniel Daianu im Nachrichtenportal Ziare:
„Der belgische Staatsaufbau ist deshalb von Bedeutung, weil er der EU ähnelt: große Gemeinschaften (Nationalstaaten), die verschiedene Sprachen sprechen; eine mangelhafte Zusammenarbeit zwischen den Behörden, die die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Bürger garantieren sollen (Polizei, Geheimdienste); ein Unverständnis für die soziale und politische Bedrohung durch Enklavenbildung von Gemeinschaften, die andere kulturelle Gepflogenheiten haben, als die der europäischen Zivilisation. ... Belgien scheint wie das Alter Ego der Union, wenn es um die Zusammenarbeit zwischen den Behörden geht, die den Schutz der Bürger garantieren und den Terrorismus bekämpfen sollen. Die belgische Erfahrung verbreitet keinen Optimismus, dass man zu einer effizienten Gemeinschaftspolitik in diesen Bereichen wird finden können.“
Absurder Kampf gegen Terror in Belgien
Der geplanten Gesetzesänderung zufolge sollen in Belgien Hausdurchsuchungen künftig auch zwischen 21 Uhr und 5 Uhr stattfinden können. Die linke Tageszeitung Duma macht sich darüber lustig:
„Was soll das? Setzt sich Brüssel nun brutal über Menschenrechte hinweg? Die Spezialkräfte dürfen nun rund um die Uhr Hausdurchsuchungen machen? Das ist eine bodenlose Frechheit! Was ist, wenn die Terroristen gerade schlafen? Oder gerade an einer Bombe herumbasteln? Wie kann man es wagen, sie ausgerechnet in diesem Moment zu stören? Das ist eine grobe Verletzung der Privatsphäre, sowas von ungerecht! Tja, all das wäre auch tatsächlich lustig, wenn es nicht so absurd und erschreckend wäre. … Offensichtlich haben es Europas Politiker nicht sonderlich eilig, in die echte Welt herunter zu kommen. Sie leben viel lieber in ihrem Elfenbeinturm, umgeben von Leibwächtern, in der schönen Welt der teuren Anzüge und der abgedroschenen Phrasen.“
Das System Belgien ist gescheitert
Bei der Gedenkfeier für die Opfer der Anschläge haben alle Behörden erneut versagt, schimpft die liberale Tageszeitung De Standaard:
„Seit den Anschlägen vom 22. März wird Tag für Tag deutlicher, dass das System Belgien nicht haltbar ist. Die organisierte Verantwortungslosigkeit darf nicht andauern. Es funktioniert einfach nicht. ... Wenn sonnenklar ist, dass das Chaos die Sicherheitsarchitektur untergräbt, dann wird es tödlich - im wahrsten Sinne des Wortes, aber auch politisch und diplomatisch. ... [Vom Marsch der Hooligans] wussten alle relevanten Behörden, aber keiner fühlte sich verantwortlich. ... Nicht die Strukturen sind das Problem, sondern die Illusion, dass man miteinander arbeiten könne, wenn man sich den Rücken zukehrt. ... Entscheidend ist, dass alle Glieder der Kette Informationen austauschen und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen.“
Geheimdienst und Politik tragen Schuld
Der belgische Geheimdienst und die Politik schieben sich gegenseitig die Schuld zu, dabei tragen beide Seiten Verantwortung für die Anschläge vom 22. März, meint die Tageszeitung Evenimentul Zilei:
„Die Geheimdienste sind als erstes in der Pflicht, denn zu ihren Zuständigkeiten zählt der Kampf gegen den Terrorismus, sie haben Anschläge zu verhindern. Doch sind die belgischen Geheimdienste unterfinanziert, und sie sind winzig im Vergleich zur Zahl der Terrorkämpfer, die nach Hause zurückkehren - 1.500 Geheimdienstler stehen mehr als 500 Kämpfern gegenüber. Belgien hat europaweit pro Kopf die meisten Terroristen, die in Konfliktgegenden fahren und wieder nach Hause zurückkehren. Doch unabhängig davon liegt die Verantwortung, einen Verwaltungsapparat auf eine Bedrohung vorzubereiten, bei den Politikern. ... Zu den Mängeln hier zählen die beschränkten gesetzlichen Möglichkeiten der belgischen Geheimdienste und eine mangelhafte Finanzierung angesichts ihrer aktuellen Aufgaben.“
Unprofessionelle Sicherheitskräfte
Das Vertrauen in die belgischen Sicherheitskräfte ist erschüttert, bilanziert auch die konservative Tageszeitung La Vanguardia:
„Die Attentate von Paris und Brüssel stellen die Professionalität der Sicherheitskräfte in Frage. Es häufen sich so viele Fehler an, dass man sich fragen muss, wie die Hauptstadt der europäischen Institutionen, durch die tagtäglich die wichtigsten Politiker laufen, einem so schlecht funktionierenden Sicherheitssystem überlassen werden kann. ... In Belgien streiten sich der Innenminister Jan Jambon, der behauptet, nach dem Attentat im Flughafen die Schließung der U-Bahn angeordnet zu haben, und der Betreiber des öffentlichen Nahverkehrs Stib, der behauptet, diese Anweisung nie erhalten zu haben. Agatha Christie sagte einmal, dass das Geheimnis eines guten Romans darin bestehe, dass der Kommissar niemals mehr wissen dürfe als der Leser. Zum Drama wird es jedoch, wenn die Polizei in Wirklichkeit weniger weiß als die Bürger.“