Berufung gegen Freispruch für Vojislav Šešelj
Die Anklage des UN-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag hat Berufung gegen den Freispruch des serbischen Nationalisten Vojislav Šešelj eingelegt. Die Richter hatten Ende März einen Mangel an Beweisen für seine Schuld an Kriegsverbrechen in den Jugoslawien-Kriegen gesehen. Auch Kommentatoren sind der Meinung, dass das Urteil revidiert werden sollte.
Freispruch wird zurecht angefochten
Das Urteil gegen Šešelj muss revidiert werden, fordert die christlich-soziale Tageszeitung Trouw:
„In dem Urteil beschränkt sich das Tribunal nicht nur auf die Rolle Šešeljs. Die Richter gehen viel weiter und urteilen, dass nicht klar ist, ob man für den Jugoslawien-Krieg überhaupt von ethnischen Säuberungen sprechen kann. Eine Woche zuvor (im Urteil gegen Karadžić) war Šešelj noch als Mitschuldiger genau für dieses Verbrechen genannt worden. Doch nun entscheidet sich das Tribunal für eine völlig andere Darstellung der Geschichte. Das ist juristisch sehr unbefriedigend und außerdem schädlich für den brüchigen Prozess der Aufarbeitung der Geschichte in den früheren jugoslawischen Republiken. Weil sie den Begriff ethnische Säuberung infrage stellen, nähren die Richter den nationalistischen Revisionismus nicht nur in Serbien, sondern auch in Kroatien und Bosnien.“
Berufungsgericht muss Freispruch aufheben
Der Freispruch für den Kriegsverbrecher Vojislav Šešelj durch das Haager Kriegsverbrechetribunal muss vom Berufungsgericht aufgehoben werden, fordert die ehemalige kroatische Regierungschefin Jadranka Kosor in der linksliberalen Tageszeitung Dnevnik:
„Eben weil wir eine europäische Ausrichtung für Serbien und Bosnien-Herzegowina wollen, ist es wichtig, dass das Berufungsgericht den Freispruch aufhebt. Derjenige, der der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Kroaten und Bosniaken in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina angeklagt ist, muss für diese Verbrechen auch verurteilt werden. Dies ist man der Geschichte, dem Frieden und der Vergangenheitsbewältigung schuldig. Nur auf der Wahrheit können wir gemeinsam eine Zukunft aufbauen, ohne dabei die Vergangenheit zu vergessen. Es gibt keine kollektive Schuld eines Volkes, es gibt jedoch die Schuld verbrecherischer Menschen, voller Hass, wie es Šešelj einer ist.“
Freispruch gefährdet Stabilität auf dem Balkan
Der Freispruch von Vojislav Šešelj gefährdet die Stabilität auf dem Balkan, warnt die linksliberale Tageszeitung Der Standard:
„Vojislav Šešelj schlug auf die Kriegstrommeln, schickte Freischärler in den Kampf und befürwortete ethnische Säuberungen. Während des gesamten Haager Gerichtsverfahrens zeigte er kein bisschen Reue. Šešeljs Freispruch, angesichts der schwachen Anklageschrift juristisch nachvollziehbar, sorgt in Kroatien und Bosnien dennoch für Empörung. Und Šešelj selbst wird sie weiter anheizen. Der hochintelligente Politiker genießt es zu provozieren. Šešelj wird sein großserbisches Gift in die ohnehin maroden regionalen Beziehungen spritzen. Nach wie vor gilt: Der eine Nationalismus nährt sich vom anderen. Die Kriegswunden sind noch offen, Geschichtsaufarbeitung gab es keine. Die regionale Arbeitslosigkeit ist gewaltig, Perspektivlosigkeit bedrückt die Jugendlichen. Es ist eine brandgefährliche Mischung.“
Die großserbische Idee lebt weiter
Mit dem Freispruch des serbischen Kriegshetzers Vojislav Šešelj hat das Haager Tribunal die Idee eines Großserbiens unterstützt, schimpft die konservative Tageszeitung Večernji list:
„Generationen serbischer Nationalisten werden mit dem Haager Urteil Auftrieb für ihre Idee der Schaffung eines Großserbiens erhalten, die Belgrad schon einige Male zu realisieren versucht hat und die tausende Menschen das Leben gekostet hat. Wir kennen diese Geschichte nur zu gut! Wir werden nie die Folgen vergessen, die die Großserben zu verantworten haben, in ihrem Versuch fremde Territorien zu erobern und andere Völker und ihr Eigentum zu vernichten. Für uns bleibt die Idee eines Großserbiens verbrecherisch. Šešelj wiederholt immer wieder, dass Großserbien eine unsterbliche Idee sei. ... Bis zu diesem Urteil gab es viele leichtgläubige Kroaten, die geglaubt haben die 'Sache mit Großserbien' sei vorbei. Dieser Richterspruch ist nun auch den Kroaten eine Lehre: die Idee eines Großserbiens lebt.“
Ankläger müssen sich mehr anstrengen
Aus dem Fall Šešelj sollte das UN-Tribunal in Den Haag seine Lehren ziehen, fordert die linksliberale Tageszeitung Dnevnik:
„Die Ankläger müssen sich nächstes Mal mehr anstrengen und die direkte Verbindung beweisen, zwischen konkreten Verbrechen paramilitärischer Banden und kriegerischem Aufruhr sowie der Aufforderung zur ethnischen Säuberung und der Forderung nach fremdem Boden. ... Diese Verbindung ist für jeden mit gesundem Menschenverstand klar und logisch, vor allem im Fall Šešeljs. Doch der juristische Verstand ist ein Phänomen sui generis, das noch eine Weile braucht, um kriegerischen Aufruhr und andere verbale Formen der Drohung gegenüber anderen, unerwünschten und gefährdeten Gruppen mit den späteren Taten des Völkermords in Verbindung zu bringen. Falls dies je gelingen wird.“
Haager Gericht büßt Glaubwürdigkeit ein
Der Freispruch für Šešelj ist eine klare Fehlentscheidung des Gerichts, findet die linksliberale Süddeutsche Zeitung:
„ [Der Urteilsbegründung] zufolge planten Šešelj und andere Belgrader Akteure mit ihrem Ziel eines 'Großserbien' keine Mord- und Vertreibungskampagne, sondern den 'Schutz der Serben' im Rahmen einer legitimen militärischen Aktion. Diese Argumentation ist absurd und skandalös. Denn sie widerspricht den Erkenntnissen von Zeitzeugen, Historikern und dem, was in Dokumenten steht. Und sie widerspricht früherer Rechtsprechung dieses Haager Gerichts. Erst am 24. März stellten Richter, die [den früheren bosnischen Serbenführer] Karadźić zu 40 Jahren Gefängnis verurteilten, fest, Šešelj sei Teil der Verbrecherbande gewesen, die in Bosnien Kroaten und Muslime jahrelang systematisch vertreiben und ermorden ließ. ... Es ist gut möglich, dass der Freispruch in einer Berufungsverhandlung aufgehoben wird. Der Schaden, den die Glaubwürdigkeit des Haager Tribunals erlitten hat, wird damit bestenfalls gemindert. Verschwinden wird er nicht mehr.“