Ukrainischer ESC-Sieg wird zum Politikum
Der Sieg der Ukrainerin Jamala beim Eurovision Song Contest sorgt für neue Aufregung in den russisch-europäischen Beziehungen. Ihr Lied "1944" handelt vom Schicksal der von Stalin vertriebenen Krimtataren - russische Politiker kritisierten, es greife das heutige Russland an. Wieviel Politik verträgt der Gesangswettbewerb?
Jamalas wichtige Botschaft
Auch die Letten kämpften einst mit einem Lied für ihre Unabhängigkeit, erinnert Neatkarīgā und findet die politische Dimension von Jamalas Song dadurch gerechtfertigt:
„Natürlich ist die politische Abstimmung eine schlechte und unmusikalische Sache. Aber besonders schlecht wäre es, wenn für ein Lied gestimmt würde, das Putins Regime lobt. Diesmal galt das Lied einem Volk. Es wird wohl kein Radiohit und auch nicht am Lagerfeuer oder auf Hochzeiten gesungen werden. Doch es wird zum Manifest im Kampf um das Überleben eines Volkes. Vor dreißig Jahren hat das Lied 'Für mein Volk' den Letten im Kampf für ihre Unabhängigkeit geholfen. ... Niemand, der das Lied hörte, hat laut geschrien, dass die Politik die Kunst besiegt. Jamala singt 'Verschlingt nicht meine Seele'. Und dieses Flehen gegenüber den Aggressoren war im Jahr 1944 genauso wichtig wie 2014 [als Russland die Krim annektierte]: Für Krimtataren, Ukrainer und auch Letten.“
Hier lassen sich europäische Ängste studieren
Als europäisches Stimmungsbarometer empfindet Kolumnistin Beril Dedeoğlu den Eurovision Song Contest und schreibt in Daily Sabah:
„Jamalas Song '1944' war eine Erinnerung an die Deportation ihres Volkes durch Stalin. ... Diese Erinnerungen wurden natürlich durch Russlands Besetzung der Krim im Jahr 2014 aufgefrischt. Ich bin nicht sicher, ob es das beste Lied des Wettbewerbes war, doch offenbar liebten Jury wie Publikum die Botschaft, die es transportierte. Der Eurovision Song Contest ist sehr ergiebig für diejenigen, die die Identitätssuche staatenloser Völker oder Machtkämpfe zwischen verschiedenen Ländern studieren. Im Zentrum der Veranstaltung stehen zudem die Identitätskrisen Europas, und es offenbarte sich in diesem Jahr, dass Russlands aktuelle Politik den normalen Europäern tatsächlich Angst macht.“
Bis zur nächsten Party auf dem Maidan
Mit ihrem Sieg hat die Sängerin Jamala ihr Land endlich wieder in die Schlagzeilen gebracht, freut sich die taz:
„Man spricht über Freiheit und die Verbrechen an Millionen von Menschen vor vielen Jahren. Jamala, die kluge Sängerin, berichtet davon, dass diese Zeiten nicht einfach unter den Tisch gekehrt werden dürfen – sonst, so sagte sie, sei Trauer nicht möglich. Was für eine politisch kluge Botschaft! Die wichtigste ihrer Messages jedoch war diese Aussage: Wir wollen, dass Europa uns Ukrainer sieht. Uns nicht vergisst. Von Russland wollen wir nur in Frieden gelassen werden. Zu Europa gehören wir längst. Ihr ist nichts hinzuzufügen. Auf Wiedersehen in Kiew – vermutlich mit der ESC-Eröffnungsparty auf dem Maidan. Ist das nicht eine Verheißung?“
Und wieder lässt sich der Westen verunsichern
Mit seiner Entrüstung über das Ergebnis des Song Contests wird Russland wieder einmal dem Selbstbewusstsein des Westens schaden, fürchtet The Times:
„Die Empörung ist nicht darauf ausgerichtet, zu überzeugen, sondern aus der Fassung zu bringen, anzuschwärzen. Sogar in Moskau müssen sie wissen, dass sich keine westliche Regierung die Mühe machen würde, das Ergebnis eines Song Contests oder eines Literaturpreises zu manipulieren. Meine Güte, der Aufwand der dafür nötig wäre, und wofür? Nein, säe die Saat der Paranoia, und diese schlägt in tausend kleinen Rissen Wurzeln. Wetten, dass das Abstimmungsverfahren des Song Contests im kommenden Jahr wieder geändert wird? Das wird niemanden kümmern, sollte es auch nicht. Und doch wird wieder ein kleines Stück westlichen Selbstbewusstseins verloren gegangen sein.“
Antisowjetische Stereotype sind zurück
Ganz klar als Angriff gegen Russland sieht Philosophieprofessor Dimitris Patelis Jamalas Lied und schreibt in Efimerida ton Syntakton:
„Ist es ein Zufall, dass die Junta von Kiew dieses Lied ausgewählt hat? Das Lied könnte eine unschuldige Hymne sein, die vom Drama eines Volkes handelt - doch nicht zu diesem Zeitpunkt. ... Die Gespenster des Faschismus und Nazismus tauchen in der Ukraine, in Europa und weltweit wieder auf. ... Das ist ein weiterer Akt im Propagandakrieg mit sehr negativen Folgen auf ideologischer, politischer und geopolitischer Ebene: eine Rechtfertigung für das Regime in Kiew und eine Auferstehung der Nazis. Die antikommunistischen und antisowjetischen Stereotype werden wiederbelebt.“
Politik hat beim Wettbewerb nichts verloren
Der ESC sollte seine Hände von solch heiklen Themen lassen, warnt Kainuun Sanomat:
„Die Europäer haben mit ihrer Wahl ein deutliches Votum abgegeben, dass sie das Engagement Russlands in der Ukraine nicht billigen. Das ist eine wertvolle Botschaft, die aber den Werten des Eurovision Song Contests widerspricht. Der ESC hat zu schwierigen Fragen, wie der sexuellen Gleichberechtigung, Stellung bezogen. … Eine politische Dimension schadet der Veranstaltung jedoch nur. Als nächstes könnte Polen an die Grausamkeiten Nazi-Deutschlands erinnern, Finnland Karelien zurückfordern, Bosnien-Herzegowina und Serbien sich wieder an das Massaker von Srebrenica erinnern und so weiter. Politik gehört nicht zum ESC. Darauf müssen die Organisatoren im nächsten Jahr besser achten als dieses Mal.“