Türkei: Neue Einheit oder drohender Zerfall?
Zu einer Kundgebung gegen den Putschversuch haben sich am Sonntag in Istanbul laut türkischen Medien rund drei Millionen Menschen versammelt. Vor der Rede von Präsident Erdoğan sprachen die Vorsitzenden der kemalistischen und nationalistischen Oppositionsparteien. Dass die kurdennahe HDP nicht eingeladen war, kritisieren Kommentatoren scharf. Viele misstrauen der demonstrativen Einheit und einige fürchten gar, dass die Türkei in einen Bürgerkrieg abdriftet.
Gelegenheit zur Versöhnung mit den Kurden nutzen
Die pro-kurdische HDP war zu der Massenkundgebung sowie zu einem Treffen Erdoğans mit Oppositionsvertretern vergangene Woche nicht geladen. Damit wird eine historische Chance auf Versöhnung mit den Kurden verspielt, kommentiert die regierungskritische Cumhuriyet:
„Die permanente Ausgrenzung der HDP kann man nicht mit der Aussage übergehen, es wäre schön, wenn sie auch dabei gewesen wären. Denn mit der HDP wird ein ganzer Teil des Landes ausgegrenzt. Nennen wir es beim Namen: Das ist eine diskriminierende Politik, die uns noch Kopfzerbrechen bereiten wird. Umso mehr, weil feststeht, dass die Gülen-Gemeinde den Friedensprozess [mit der PKK] stets torpediert hat. ... Auch die Ausgrenzung der HDP passt zur Kurdenpolitik der Gemeinde. Wie ist also zu erklären, dass man nun die einmalige Gelegenheit einer gesellschaftlichen Aussöhnung verstreichen lässt?“
Für Ekrem Dumanlı hat Erdoğan eine Chance vertan
Der Putschversuch hätte Anlass für Erdoğan sein können, den Rechtsstaat zu stärken, erklärt der Ex-Chefredakteur der türkischen Zeitung Zaman, Ekrem Dumanlı, in der FAZ:
„Stellen wir uns vor, Präsident Erdoğan hätte Folgendes gesagt: 'Gegen die Putschisten, die mit Waffengewalt die gewählte Regierung niederschlagen wollten, werden Ermittlungen eingeleitet. Wer an den Putschplänen und deren Umsetzung beteiligt war, wird ein hartes, aber gerechtes Verfahren vor freien Gerichten bekommen.' ... Erdoğan und die AKP-Regierung verhielten sich aber anders. Noch bevor Klarheit darüber bestand, was auf den Straßen von Ankara und Istanbul ablief, beschuldigten sie Fethullah Gülen und seine Sympathisanten namentlich - obwohl es unzählige Fragen zu dem gescheiterten Putsch gab und noch immer gibt. ... Unmittelbar nach dem Putschversuch nannte Erdoğan den Putschversuch einen 'Segen Gottes'. Wenn es die Absicht ist, sich nicht mit dem Putsch zu befassen, sondern einen Teil der Gesellschaft ohne Ermittlungen und Urteile zu vernichten, kann man es sehen wie der Präsident.“
Bürgerkrieg in der Türkei unbedingt verhindern
Präsident Erdoğan strebt für sein Land die Vorherrschaft in der Region an, warnt Diplomat Ferdinando Salleo in La Repubblica:
„Es ist schwer vorstellbar, dass ein derartig ehrgeiziges Vorhaben umzusetzen ist, wo doch dieses Land voller Widersprüche ist und eine Führungskraft hat, die kein Pardon kennt. ... Europäer und Amerikaner wären gut beraten, die Entwicklung mit solidarischer Nähe und kluger Bedachtsamkeit zu verfolgen. Nicht nur, weil wir direkt betroffen sind, sondern auch mit Blick auf die Stabilität in der Region. Ein weiteres Abdriften der Türkei muss mit allen rechtmäßigen Mittel verhindert werden. ... Der unausgesprochene Albtraum für alle ist, dass die Widersprüche innerhalb des Landes explodieren und in einen Bürgerkrieg ausufern, der weit über die Landesgrenzen hinausgeht. Dies würde für lange Zeit das Ende von Gleichgewicht und Stabilität im gesamten Mittelmeerraum bedeuten.“
Der Garant für Ordnung
Warum es wichtig ist, dass Erdoğan die Türkei stabil hält, erläutert der Publizist László Bogár in der Tageszeitung Magyar Hírlap:
„Die Türkei befindet sich am neuralgischen Punkt zwischen Europa und Asien, noch dazu trennen das Land nur wenige hundert Kilometer von Afrika. ... Im Nahen Osten, der zweifelsohne der gefährlichste Konfliktherd der vergangenen sechzig Jahre war, nimmt die Türkei neben den USA, Russland, Israel und Saudi Arabien eine strategische Rolle ein. Die Türkei hat also die schier unlösbare Aufgabe, in diesem hochintensiven geopolitischen Kraftfeld das Gleichgewicht zu halten, wobei massive Spannungen mit den Kurden im Inneren des Landes noch hinzukommen. ... Trotz der jüngsten demokratiepolitischen Verwerfungen Erdoğans ist sein autoritärer Kurs wohl dennoch der beste Garant dafür, das empfindliche Gleichgewicht in der Türkei zu halten und für Ordnung zu sorgen.“
Von AKP ist keine Demokratie zu erwarten
Am Sonntag hat die AKP-Regierung zwar gemeinsam mit Oppositionsparteien für Demokratie und Einheit demonstriert, doch diesem Schauspiel kann man nicht trauen, meint die kemalistische Cumhuriyet:
„Ein Konsens per Diktat, mit der Verurteilung des Putsches als kleinstem gemeinsamen Nenner, ist Unsinn. Kommen wir zur Demokratie. Es ist ein Begriff, der vom Erdoğan-Regime sinnentleert wurde. ... Füllen wir also das Innere der Demokratie mit Bedeutung. Als erstes Laizismus. ... Ohne ihn geht es nicht. Eine freie Presse. ... Eine unabhängige, unparteiliche, professionelle Justiz. Das Recht auf eine faire Anklage. Rechtsstaat. Menschenrechte. Persönliche Rechte und Freiheiten. ... Der einzige Konsens, auf den man sich verständigen muss, ist wirkliche Demokratie. Doch mit dem derzeitigen Regime ist ein Konsens auf dieser Grundlage unmöglich. Ihr glaubt vielleicht, dass die AKP einen Schritt zurücktritt, mit euch zusammenarbeitet und einen Kompromiss schließt. Aber das wird nicht geschehen, das liegt nicht in ihrer Natur.“
Neue Ära der Einheit
So viel Geschlossenheit hat die Türkei noch selten erlebt, jubelt die konservative Milliyet:
„Millionen haben den Yenikapı-Platz mit türkischen Fahnen in ihren Händen rot-weiß gefärbt und mit einer einzigen Stimme die Verbundenheit zu ihrer Fahne und zur Demokratie beschworen. Und zum ersten Mal seit langer Zeit haben wir uns landesweit so gut gefühlt. Denn nach dem Klima der Polarisierung haben wir das Einvernehmen, das wir in den letzten 23 Tagen in der Politik und auf der Straße erlebten und das gestern in Yenikapı seinen Höhepunkt erreichte, sehr vermisst. Wenn doch auch die HDP dabei gewesen wäre. Auch das sollten wir unseren Hoffnungen hinzufügen, und so soll das historische Foto von Yenikapı nicht nur eine Erinnerung bleiben, sondern das Bild des Beginns einer neuen Ära werden. Diese Einheit benötigen wir dringend, besonders in diesen kritischen Tagen.“
Nur freundliche Fassade
Geschickt setzt Erdoğan alles daran, seine 14 Jahre währende Unterstützung Gülens vergessen zu machen, analysiert der Standard:
„Für etwas die Verantwortung zu übernehmen, gar von einem Amt zurückzutreten, bedeutet in der Türkei Schwäche, und schwache Männer kann das Land nicht ertragen. Tayyip Erdoğan scheint nun, nach dem gescheiterten Putsch, so stark, dass er es sich sogar leisten kann, um Entschuldigung zu bitten. Gott und Volk hat der türkische Staatspräsident um Vergebung gebeten, schnell dahingesagt in einem Nachsatz: Die wahre Natur der Gülen-Bewegung habe er, Erdoğan, leider nicht erkannt. Um den einstigen politischen Glaubensbruder und dessen Anhänger rasch zu Terroristen zu stempeln, braucht der türkische Präsident die Fassade der demokratischen Geschlossenheit, der neuen Freundlichkeit gegenüber der Opposition. Die Fassade wird halten, solange sie Erdoğan nützlich ist.“
Opposition unterwirft sich
Die Teilnahme der Parteivorsitzenden von CHP und MHP an der Massenkundgebung in Istanbul zeigt, dass die Einschüchterungspolitik des türkischen Präsidenten funktioniert, bedauert die Tageszeitung Corriere della Sera:
„Dass Erdoğan jedes Mittel einsetzen würde, um seinen 'Gegenputsch' mit Erfolg zu krönen, war absehbar. Überraschend ist aber, dass die Führer der Oppositionsparteien sich so rasch erpressen lassen. Nach dem Muster, dass wenn sie nicht als Putschisten gelten wollen, sie an der Kundgebung teilnehmen müssen. Ihre Unterwerfung sagt viel über das Klima der Hexenjagd aus, das derzeit in der Türkei herrscht. So wird die Volksmobilisierung, die keine unwesentliche Rolle beim Niederschlagen des Militärputsches am 15. Juli gespielt hat, zu einer Dauerkomponente. Und zwar immer mehr zu dem Zweck, bestimmte politische Ziele durchzusetzen.“