Ist Rousseffs Amtsenthebung richtig?

Brasiliens Senat hat am Mittwoch für die Absetzung von Dilma Rousseff als Präsidentin gestimmt. Nach monatelangem Machtkampfwird der ehemalige Vizepräsident Michel Temer Staatschef. Die politische Krise ist aber nicht vorüber, fürchten einige Kommentatoren. Andere sehen die brasilianische Linke noch längst nicht am Boden.

Alle Zitate öffnen/schließen
De Standaard (BE) /

Konservative werden das Land nicht retten

Mit der Absetzung der linken Präsidentin wird sich die Krise in Brasilien nur verschlimmern, warnt der Publizist Raf Custers in De Standaard:

„Die konservative politische Kaste ist dabei, mit voller Kraft ihre Macht wieder herzustellen. ... Temers Regierung will die Verfassung ändern und in den kommenden Jahren die Staatsausgaben beschränken. Vor allem beim Bau von Sozialwohnungen, bei Bildung, Gesundheit und Umweltschutz soll gespart werden, während der blühende brasilianische Bankensektor unangetastet bleibt. ... Unter der neuen Regierung sind auch das Arbeitsgesetz und die soziale Sicherheit gefährdet. Das Temer-Lager und seine Anhänger in den Medien versprechen, dass Brasilien sofort zu altem Ruhm zurückkehren wird. Breite Schichten der Bevölkerung, gerade in der Mittelklasse, glauben ihnen. Aber genauso wenig wie Dilma Rousseff wird die neue, nicht-gewählte Regierung von Brasilien die wirtschaftliche Rezession in den Griff bekommen.“

Der Standard (AT) /

Niederlage könnte zur Chance für Linke werden

Nach der Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff könnte den Linken dennoch die Rückkehr an die Macht gelingen, glaubt Der Standard:

„Während des Amtsenthebungsverfahrens hielt sich Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva zunächst im Hintergrund, wich dann aber seiner Nachfolgerin nicht mehr von der Seite. Dabei hatte die graue Eminenz der lateinamerikanischen Linken schon den nächsten Plan ausgeheckt: Der 70-Jährige will die versammelte Opposition im Kongress zusammen mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu einer großen Linksfront vereinen. Nur mit dieser breiten Bewegung, so sein Kalkül, kann ihm in zwei Jahren ein Wahlsieg gelingen. Er setzt dabei auf den Volkszorn und die schnelle Abnutzung der hochgradig unbeliebten neuen Regierung unter Michel Temer.“

Basler Zeitung (CH) /

Unschuldig aus dem Amt gedrängt

Formal wurden Rousseff Rechentricks zur Last gelegt, mit denen die Haushaltszahlen geschönt wurden. Das rechtfertigt aber keinesfalls eine Amtsenthebung, kritisiert die Basler Zeitung:

„Ein Kongress voller ­nachweislich korrupter oder unter dem Verdacht der Bestechlichkeit stehender Parlamentarier hat eine Präsidentin abgesetzt, der nicht einmal ihre grössten Feinde vorwerfen, sich bereichert zu haben. Rousseff sei ­s­chuldig, sagen dennoch zwei Drittel der Brasilianer. Aber wessen hat sich die nun ehemalige Präsidentin eigentlich schuldig gemacht? Die Haushaltsmanipulation oder die Budgetkniffe, die sie den Job gekostet haben, waren nur ein Vorwand. ... Letztlich warfen ihr viele vor, sie sei starr­köpfig, ihr fehle Ein­fühlungs­ver­mögen und Kompromissfähigkeit. All das mag stimmen. Aber kein einziges dieser Argumente ­rechtfertigt, dass sie auf diese Weise aus dem Amt gedrängt wird.“

El Periódico de Catalunya (ES) /

Rechte wollten Linke endlich loswerden

Die Rechte sah ihre Chance gekommen, endlich die linke Präsidentin loszuwerden, urteilt El Periódico de Catalunya:

„Der Grund für das Amtsenthebungsverfahren, ein unklares Schönen des Staatshaushalts, ist ein relativ geringes Vergehen, vergleicht man es mit den schweren Vorwürfen, die gegen einen Großteil der brasilianischen Abgeordneten und Senatoren erhoben werden, insbesondere gegen den Rousseff-Ankläger, den ehemaligen Kongressvorsitzenden Eduardo Cunha. Das Verfahren lässt sich also nur als rein politischer Prozess verstehen, um eine Präsidentin und 13 Jahre Linksregierung des Partido dos Trabalhadores loszuwerden. Die Missstände, die zur Schwächung von Rousseff beigetragen haben - Wirtschaftskrise, mangelnde Konkurrenzfähigkeit, wachsende Arbeitslosigkeit und Inflation - werden durch ihre Absetzung nicht besser. ... Zusätzlich zum wirtschaftlichen Rückschritt Brasiliens versetzt Rousseffs Enthebung dem Land nun noch einen schweren politischen und demokratischen Rückschlag.“

Jornal de Negócios (PT) /

Historische Chance verpasst

Mit der Amtsenthebung von Dilma Rousseff endet auch der Traum von einer besseren Politik in Brasilien, meint André Veríssimo im Jornal de Negócios:

„Die Arbeiterpartei (PT) hatte die historische Chance und auch die Verantwortung, die Dinge anders und besser zu machen. Sie hat sich aber blenden lassen. ... Sie hat zugelassen, dass sich die eigenen Reihen am Machthebel bedienten. Der Fall von Ex-Präsident Lula da Silva und Dilma ist auch das Ende eines Traums und eines Mythos. … Dilma hinterlässt ein Land in einer tiefen Krise, abermals in der Rezession (die Wirtschaft schrumpft seit eineinhalb Jahren), Hyperinflation, Gewaltzunahme und chronische politische Instabilität. … Eine Ära geht nun zu Ende, eine andere - hoffentlich zuversichtlichere - wird sich behaupten. Das kann aber nur geschehen, wenn Brasilien in der Lage ist, seine politische Klasse zu desinfizieren.“

tagesschau.de (DE) /

Rousseff hat ihre Gegner selbst groß gemacht

Dass Dilma Rousseff ihr Amt an Michel Temer verlor, hat sie sich auch selbst zuzuschreiben, meint tagesschau.de:

„Rousseff macht es sich viel zu einfach, wenn sie jetzt nur mit dem Finger auf den neuen Machthaber zeigt und immer wieder 'Staatsstreich' ruft. Denn der Machtwechsel ist nicht nur Ausdruck des Machthungers von Temer und Konsorten, sondern auch Folge ihres politischen Versagens. Rousseff hatte sich im Alvorada-Palast, ihrem Amtssitz, eingeigelt. Sie nahm ihre Verbündeten und Partner nicht mit, band sie nicht in Entscheidungen ein, war teils monatelang nicht für sie zu sprechen. Es war also nicht nur ihre Politik, sondern vor allem ihr Politikstil, mit dem sie letztlich ihre Gegner groß gemacht hat. ... Sie aus dem Amt zu hebeln war auch nur möglich, weil auch die Wähler sie nicht mehr im Präsidentenpalast sehen wollten. Was allerdings für Temer genauso gilt. Jetzt folgt ein unbeliebter Präsident auf eine unbeliebte Präsidentin.“