Wie ist der Haftbefehl gegen Netanjahu zu bewerten?
Wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Haftbefehle gegen den israelischen Premier Benjamin Netanjahu, dessen Ex-Verteidigungsminister Joaw Gallant sowie gegen den Hamas-Anführer Mohammed Deif erlassen. Israel und die USA – beide erkennen den IStGH offiziell nicht an – kritisierten die Entscheidung scharf. Europas Presse ist gespalten.
Eine wichtige Premiere
Le Soir sieht einen Schritt in die richtige Richtung:
„Man kann davon ausgehen, dass die palästinensischen Opfer des schrecklichen Vorgehens Israels im Gazastreifen die Bekanntgabe des Haftbefehls mit skeptischer Zufriedenheit zur Kenntnis nehmen. ... Die Opfer ahnen, dass es noch lange nicht so weit ist und dass das Schauspiel eines vor den Richtern in Den Haag erscheinenden israelischen Premiers wahrscheinlich nie stattfinden wird. ... Nichtsdestotrotz stellen diese Haftbefehle, die aufgrund des starken Drucks auf den IStGH lange auf sich warten ließen, einen sehr begrüßenswerten Anfang der internationalen Justiz dar. Etwas, das (knapp) über die Symbolik hinausgeht. Es ist eine Premiere, da noch nie zuvor führende Politiker eines Staates, der als Teil des 'Westens' angesehen wird, eine derartige Schmach erlitten haben.“
Und bei der Hamas herrscht Jubel
De Telegraaf ist empört:
„Der Gerichtshof scheint zu ignorieren, dass Israel gegen eine barbarische Terrorgruppe kämpft, die geschworen hat, erneut Bürger zu ermorden, zu vergewaltigen und als Geiseln zu nehmen, bis Israel völlig von der Landkarte gefegt ist. ... Bei der legitimen Ausführung des Rechts auf Selbstverteidigung ist Israel konfrontiert mit einem Feind, der offensichtlich Bürger als menschliche Schutzschilde nutzt. ... Das alles interessiert den Strafgerichtshof offensichtlich nicht. Dass die Mörderbande von Hamas jubelnd auf die Haftbefehle reagiert, sagt mehr als genug.“
Der Gerichtshof gerät auf die Gegenfahrbahn
Mit der Gleichsetzung von Israel und der Hamas setzt der Strafgerichtshof seine Autorität aufs Spiel, kritisiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Kein öffentliches Wort über den genozidalen Terrorangriff, gegen den Israel sich wehrt. In einem Aufwasch werden Haftbefehle gegen Massenmörder und Regierungsmitglieder eines demokratischen Rechtsstaats bekannt gegeben. Der Strafgerichtshof darf sich nicht wundern, wenn ihm bisher treue westliche Staaten die Gefolgschaft verweigern – und die Feinde von Recht und Freiheit ihm zujubeln. Eine weitere Spaltung droht – und das ausgerechnet durch ein Gericht, dessen Statut die gemeinsamen Bande aller Völker beschwört und sich besorgt zeigt, 'dass dieses zerbrechliche Mosaik jederzeit zerstört werden kann'. So ist es.“
Israel-Unterstützung auf Eis legen
Wie man in Kopenhagen mit der Entscheidung umgehen sollte, stellt Politiken klar:
„Dass Dänemark dem Befehl Folge leisten und Netanjahu verhaften muss, wenn er ins Land kommt, ist eine Selbstverständlichkeit. ... Dänemark hat Israel nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober massiv unterstützt und sich für das Recht des Landes auf Selbstverteidigung eingesetzt. Was meinen wir jetzt, wenn die höchste juristische Instanz des humanitären Völkerrechts Israels Führer die schwersten Verbrechen überhaupt vorwirft? Sollte es Konsequenzen für unsere Politik haben? Die Antwort ist ja. Bis Benjamin Netanjahu kapituliert oder der Fall anderweitig abgeschlossen ist, sollten wir Israel auf Eis legen. Sowohl wirtschaftlich als auch diplomatisch.“
Gefahr eines gespaltenen Westens
Europa wird sich in dieser Frage wohl kaum über die USA hinwegsetzen, prophezeit Libération-Chefredakteur Dov Alfon:
„Das französische Außenministerium, das sich gerne rätselhaft ausdrückt, erklärte, dass Frankreich die Maßnahmen des Gerichtshofs 'stets unterstützt' habe, aber dass die Haftbefehle 'eine komplexe Rechtsfrage' darstellten und die Situation daher 'viele rechtliche Vorsichtsmaßnahmen' erfordere. Natürlich ist das gegenteilig zu verstehen: Die rechtliche Frage ist einfach, aber sie erfordert komplexe politische Vorkehrungen. Da die USA die Legitimität der Haftbefehle schon vor dem Amtsantritt des künftigen US-Präsidenten Donald Trump ganz klar abgelehnt haben, ist schwer vorstellbar, dass Großbritannien - oder auch Frankreich - Netanjahu verhaften würden, womit sie riskierten, die Waffen für die Ukraine oder für die Nato zu verlieren.“
Effekthascherei des IStGH
The Times findet die Haftbefehle kontraproduktiv:
„Die Israelis sind immer noch vom 7. Oktober traumatisiert und viele werden instinktiv versuchen, ihren Premier gegen eine Institution zu verteidigen, die sie als weit entfernt und feindselig betrachten und die darauf aus zu sein scheint, ihr angegriffenes Land in Verruf zu bringen. Dass unschuldige Bewohner des Gazastreifens, darunter Tausende von Kindern, im letzten Jahr schwer gelitten haben, steht außer Zweifel. Doch das Forum, in dem die israelische Politik und ihre Entscheidungsträger untersucht werden müssen, ist das israelische Rechtssystem. Diese großspurige rechtliche Kriegsführung des IStGH wird lediglich für mehr Aufregung sorgen, nicht für mehr Klarheit.“