Putins neue Atom-Doktrin: Wird es gefährlich?

Wladimir Putin hat die im September angekündigte Veränderung der Nukleardoktrin Russlands unterzeichnet. Ein von einer Atommacht unterstützter konventioneller Angriff einer nicht nuklear bewaffneten Nation werde als gemeinsame Attacke aufgefasst, heißt es nun in dem Dokument. Auch wurde die für eine Reaktion mit Atomwaffen nötige Schwelle der Bedrohung Russlands herabgesetzt. Die Einschätzungen in den Medien gehen stark auseinander.

Alle Zitate öffnen/schließen
Telegram (HR) /

Wahrscheinlichkeit eines Atomeinsatzes bei Null

Russland wird trotz neuer Doktrin kaum auf Nuklearwaffen zurückgreifen, zeigt sich Telegram überzeugt:

„Egal was man mit einer Atombombe an der Front erreichen würde, Russland würde dafür einen immensen Preis bezahlen. ... Das nukleare Tabu ist besonders stark ausgeprägt in den Ländern des globalen Südens, die Moskau den Rücken kehren würden. Auch China würde sich distanzieren und ohne dessen wirtschaftliche und technologische Hilfe wäre der russische Krieg in der Ukraine unmöglich. Russland würde ein internationales Embargo treffen. ... Die Ukraine würde jede mögliche Hilfe bekommen, wahrscheinlich sogar von der Regierung Trump. Die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert, ist gleich Null, denn Putin ist vielleicht verrückt, aber er ist kein Idiot.“

Avvenire (IT) /

Auch ein kleines Risiko ist ein Risiko

Leider besteht die Gefahr, dass es nicht nur ein Bluff ist, warnt Avvenire:

„Würde Russland wirklich Atombomben, wenn auch nur taktische, in der Ukraine einsetzen? Es gibt viele, die Putins Drohungen nur für einen Bluff halten. Allen voran die Ukrainer, die einen Rückzug des Westens befürchten. Und mit ihnen viele europäische Politiker, vom Baltikum bis nach Großbritannien. Polen ist vorsichtiger, baut Schutzräume und bietet den USA die Bereitschaft an, Atomwaffen aufzunehmen. Pragmatisch ist Schweden, das an fünf Millionen Haushalte Flugblätter mit Anweisungen für den Fall eines Atomangriffs verteilt hat. ... Zu 99,9 Prozent ist es ein Bluff von Putin. Aber was ist mit den restlichen, schrecklichen 0,1 Prozent? Auf diese Frage gibt es keine eindeutigen Antworten, nur Befürchtungen.“

La Vanguardia (ES) /

Besser nicht mit dem Feuer spielen

La Vanguardia ist besorgt:

„Handelt es sich um eine weitere folgenlose Provokation Putins oder könnte neuer Raketenbeschuss aus der Ukraine eine atomare Antwort Russlands auslösen? Hoffentlich ist es nur ein weiteres Getöse, aber man spürt auch, dass wir in einer politischen Übergangssituation sind. Die Regierung Biden ist auf dem Rückzug. Das gilt auch für den Hohen Vertreter der EU, Josep Borrell. Wie der spanische Politiker zu Recht sagte, ist 'jeder Aufruf zum Atomkrieg unverantwortlich'. Sehr richtig, es ist besser, nicht mit dem Feuer zu spielen. Die militärische Eskalation sollte so schnell wie möglich gestoppt werden.“

e-vestnik (BG) /

Putin wartet auf Trump

Von russischen Drohungen nicht beeindrucken lässt sich e-vestnik:

„Putin hat keine Verbündeten, mit Ausnahme der drei finstersten Regime der Welt: die primitive kommunistische Monarchie von Kim Jong-un, der islamistische Staat Iran und Lukaschenka – das archaischste Ein-Mann-Regime Europas. ... Dazu kommt noch das neostalinistische Regime von Putin selbst. Seine Behauptungen sind erstaunlich: Russland beschießt die gesamte Ukraine mit allen möglichen Waffen, importiert sie aus anderen Ländern und importiert Truppen, aber die Ukraine hat kein Recht, auf Russland zu schießen. Und wenn jemand Russland dieses 'Recht' streitig macht, droht Putin mit dem Atomknopf. Er wird ihn wegen der Atacms-Raketen nicht drücken. Er wartet auf Trumps Amtsantritt in der Hoffnung, dass dieser ihm gibt, was er will.“

La Repubblica (IT) /

Rüstzeug für das Duell mit Trump

Der Kreml macht sich für einen diplomatischen Showdown bereit, schreibt La Repubblica:

„Die Drohung des Kremls richtet sich zwar an Joe Biden, spricht aber eigentlich seinen Nachfolger an, indem zwei gegensätzliche Karten auf den Tisch gelegt werden. Putins Bereitschaft, mögliche Vorschläge Trumps zur Beendigung des Ukraine-Kriegs auszuloten, und seine Entschlossenheit, Atomwaffen einzusetzen, sollte sich Russland 'in Gefahr' befinden. Dies ist der Beginn der unvorhersehbaren und brutalen Kraftprobe zwischen Trump und Putin ... Sie kann zu einem neuen Jalta führen, indem die Einflusssphären in Europa, Afrika und Nahost neu definiert werden, um die aktuellen Konflikte zu beenden, oder es kann zu einem Frontalzusammenstoß zweier Führer ausarten, die bereit sind, alles zu tun, um sich gegen ihren Gegner durchzusetzen.“

Népszava (HU) /

Das Kaliber einer neuen Kuba-Krise

Die Lage ist so ernst wie nur einmal in der Geschichte, meint Népszava:

„Mit dieser Botschaft, die der russische Präsident offensichtlich als Antwort an Washington formuliert hat, hat er die Welt so nahe an den Ausbruch eines Atomkriegs gebracht wie zuletzt 1962, in der Zeit der Kuba-Krise. Es gibt subtile Unterschiede zwischen der damaligen und der heutigen Situation, aber nur subtile. ... Wenn es nicht möglich ist, die Situation in naher Zukunft umzukehren und den Prozess in Richtung einer Verhandlungslösung zu lenken, dann öffnet sich für Putin theoretisch die Möglichkeit, Atomwaffen so einzusetzen, dass der Gegner zwar nicht in die Knie gezwungen wird, aber mit traditionellen Waffen antworten wird, um einen nuklearen Weltkrieg zu vermeiden.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Keine neue Bedrohungslage

Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung ändert sich durch die neue Doktrin nichts Wesentliches:

„Von Bedeutung ist nicht ihr Wortlaut, sondern ihre willkürliche Auslegung durch die Machthaber. ... Seit er [Putin] während der Annexion der Krim im Frühjahr 2014 die russischen Atomstreitkräfte in Bereitschaft versetzen ließ, spielt er mit der Drohung des Einsatzes von Atomwaffen, um konventionelle militärische Aggressionen abzusichern. Die Vorsicht des Westens bei der militärischen Unterstützung für die Ukraine ist die – wohlbegründete – Reaktion darauf. Dass der Kreml nun die Bedingungen für den Einsatz von Atomwaffen etwas weiter fasst und ein klein wenig schwammiger definiert, verändert die Bedrohungslage daher kaum.“

Corriere della Sera (IT) /

Muskelspiel für den Hausgebrauch

Die Atomdoktrin ist innenpolitisches Propagandafutter, wirft Corriere della Sera ein:

„Nachdem am Freitag die Nachricht aus den USA kam, ließ das russische Fernsehen sofort die Muskeln des patriotischen Stolzes spielen. ... 'Drei gut platzierte Raketen und die gesamte britische Zivilisation bräche zusammen und wäre für immer zerstört', tönte ein Militärexperte im ersten staatlichen Kanal und zeigte eine Karte mit allen Hauptstädten und sensiblen Orten in Europa, die von den Raketen seines Landes erreicht werden könnten. ... Es hilft wenig, dass einige kluge Medien und Personen, die die Absichten Putins und seines inneren Kreises wirklich kennen, den Rückgriff auf die Totalwaffe weiterhin ausschließen. Dies ist der Wind, der seit Jahren in Russland weht.“