Ist Clintons Gesundheit ihre Privatsache?
Nach ihrem Schwächeanfall bei der 9/11-Gedenkfeier in New York hat Hillary Clinton die Entscheidung verteidigt, ihre Lungenentzündung der Öffentlichkeit zu verschweigen. Kommentatoren diskutieren, ob ihre Gesundheit Clinton im Wahlkampf zum Verhängnis werden könnte. Andere beschäftigen sich mit der Debatte selbst und fragen, ob Präsidentschaftskandidaten alles offenlegen müssen.
Wähler müssen über Fitness Bescheid wissen
Mehrere Gründe sprechen dafür, dass Kandidaten für politische Spitzenämter ihren Gesundheitszustand offenlegen, erläutert Le Soir:
„Wer Fragen zur Gesundheit, die die Machtausübung gefährden könnten, ausweicht, ebnet Demagogen den Weg - und die haben derzeit sowieso schon leichtes Spiel. Trump hat die Gelegenheit ausnahmsweise vorbeiziehen lassen. ... Über den eigenen Gesundheitszustand zu lügen, schadet der Politik im weiteren Sinne. Außerdem sind solche Lügen Demokrativerweigerung. Zwar gehört der Gesundheitszustand zur Privatsphäre, doch die Tatsache, für eines der höchsten Ämter im Land auserkoren zu sein macht es nötig, dass - ohne der Tyrannei der Transparenz verfallen zu wollen - die Wählerschaft die Regierungseignung einschätzen kann.“
Clinton ist Opfer von Trumps Frauenhass
Die Reaktion Donald Trumps auf den Schwächeanfall von Hillary Clinton ist für Aftonbladet ein eindeutiges Zeichen für den Frauenhass des republikanischen Präsidentschaftsanwärters:
„Indem er seine Gegnerin schwächt, baut Donald Trump sein Image als Machomann auf. Er glaubt, dass ein wahrer Gewinner alle Frauen dominieren muss und wenn er nicht mit ihnen schlafen kann, muss er sie auf Twitter erniedrigen: 'Wenn Hillary Clinton nicht ihren Mann befriedigen kann, was macht sie glauben, dass sie Amerika befriedigen kann?' [eigentlich ein Retweet eines Trump-Mitarbeiters, der sofort wieder gelöscht wurde]. Das ist übertrieben, wie so vieles andere im amerikanischen Wahlkampf. Aber eigentlich sollte unser innerer Alarm schrillen. Denn ähnliches ist in Schweden geschehen und in Deutschland hat sich der Ton gegen Angela Merkel verschärft. ... Selbstverständlich müssen sich Politikerinnen einer kritischen Untersuchung unterziehen. Aber sie dürfen nicht dafür kleingemacht werden, dass sie Frauen sind.“
Niemand fragt nach der psychischen Gesundheit
Die Debatte um den Gesundheitszustand Hillary Clintons macht für Delo zwei Probleme der Politik in den USA deutlich:
„Zum einen zeigt sie, dass sich die US-Politik, einst Vorbild für andere, auf ein sehr niedriges Niveau herabgelassen hat. Zum zweiten wird deutlich, dass dies nicht möglich wäre, wenn die Öffentlichkeit derartige Methoden nicht billigen, belohnen und geradezu voraussetzen würde. Hinter all dem steckt etwas Heuchlerisches, denn bei den Argumenten zählt nur die körperliche Gesundheit. Es wird aber nicht über den geistigen Zustand von Politikern diskutiert, beispielsweise über Betroffene der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die haben sich in der Geschichte bereits als Verursacher großer Probleme gezeigt, auch von Kriegen apokalyptischen Ausmaßes, wenn man an den Zweiten Weltkrieg erinnert.“
Trump könnte tatsächlich gewinnen
Der Umgang Clintons mit ihrer Erkrankung reiht sich ein in eine Reihe von Fehltritten, urteilt Hospodářské noviny:
„Die Erkrankung passt in den Rahmen ihres größten Handicaps: Sie ist nicht aufrichtig, vertrauenswürdig und transparent. Kurz: Sie verheimlicht immer etwas. Ob das nun ihre E-mails betrifft oder die Praktiken ihrer Stiftung in ihrer Zeit als Außenministerin. ... Ihr Widersacher Donald Trump ist vernünftig genug, sich da zurückzuhalten. Aber selbstverständlich ist das Wind für seine Segel. ... Bis zur Wahl bleiben noch etwas mehr als 50 Tage. Clinton führt zwar weiter in entscheidenden Staaten wie Pennsylvania oder Ohio. Aber auf das ganze Land gesehen sind die Präferenzen ziemlich ausgeglichen. Der leicht erregbare, derbe und die Welt ignorierende Narziss Donald Trump könnte tatsächlich gewinnen.“
Schwache Kandidatin gerät ins Straucheln
Das US-amerikanische Establishment fragt sich, ob es mit Hillary Clinton die richtige Kandidatin für das Präsidentenamt hat, beobachtet ABC:
„Und jetzt die Krankheit. Angeblich eine Lungenentzündung, aber viele kaufen ihr das nicht ab. ... Sieben Wochen vor der Wahl stehen sie nun mit einer 'siechenden' Kandidatin da. Hillary Clinton war von Anfang an eine schwächelnde Kandidatin, wegen ihrer tausend Vorerkrankungen: Da ist ihr hartes Image als eiserne First Lady und als skrupellose Politikerin in der Vorwahl gegen Obama oder als Außenministerin. Durch die Benachteiligung von Bernie Sanders und die Operationen mit der Clinton-Stiftung gilt sie als unehrlich und gierig. Sie vertuschte politische Skandale, diplomatische Misserfolge und illegale Kommunikationen. Deshalb zweifelt man nun auch daran, dass sie über ihren Gesundheitszustand wirklich die Wahrheit sagt.“
Jungspunde sind beide nicht mehr
Die Zweifel an Clintons gesundheitlicher Eignung fürs Präsidentenamt werden nicht wahlentscheidend sein, glaubt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Geschickt schlachtet Donald Trump die Erkrankung Hillary Clintons nicht direkt aus, sondern setzt darauf, dass beim Publikum jetzt die Zweifel aufgehen, die er schon früher an der physischen Eignung der Demokratin für das Präsidentenamt gesät hatte. Wahlentscheidend dürfte das nach derzeitigem Stand wohl nicht werden. Solange es Clinton nicht so schlecht geht, dass sie ihre Kandidatur aufgeben muss, werden sich die Wähler nicht in Scharen von ihr abwenden; dafür erscheint die inhaltliche Auseinandersetzung zu ernst und zu tiefgehend. Außerdem wird dem Publikum bewusst sein, dass beide Kandidaten keine Jungspunde mehr sind. Freundliche ärztliche Atteste ändern nichts daran, dass sich da zwei Leute um einen Hochleistungsjob bewerben, die in einem Alter sind, in dem andere aus gutem Grund den Ruhestand genießen.“