Darf ein Musiker den Literatur-Nobelpreis erhalten?
Der US-Musiker Bob Dylan erhält den Literatur-Nobelpreis 2016. Damit hat sich die Schwedische Akademie erstmals für einen Künstler entschieden, der nicht primär als Schriftsteller gilt. Einige Kommentatoren bedauern, dass sie einen Vertreter der Popkultur ausgezeichnet hat. Andere loben das neue Literatur-Verständnis der Jury.
Anderen Preisträgern Lichtjahre hinterher
Dylans Lebenswerk ist beachtlich, doch es reicht in keinster Weise an das früherer Literatur-Nobelpreis-Gewinner heran, kritisiert der Daily Telegraph:
„Der Preis sollte nicht für Beliebtheit vergeben werden (sonst hätte Doris Lessing ihn nie gewonnen), sondern für eine Kombination von Fähigkeit und Idealismus. Dylan hat beides, doch sein Lebenswerk kommt nicht an das früherer Preisträger wie Yeats, Gide, O’Niell, Solschenizyn, etc. heran. Mit dem Ausmaß ihres Schaffens und der thematischen Dichte ihrer Texte sind sie Dylan um Lichtjahre voraus. ... Eine Kultur, die Bob Dylan den Literaturnobelpreis verleiht, ist eine, die Donald Trump für die Präsidentschaft nominiert. Es handelt sich um eine Kultur, die sich nicht um Qualifikationen kümmert, sondern lediglich die Befriedigung primitiver emotionaler Bedürfnisse zum Ziel hat.“
Jury stellt die Regeln auf den Kopf
Die Entscheidung ist zu weit weg vom Grundgedanken für die Verleihung des Literatur-Nobelpreises, kritisiert Adam Szostkiewicz in Polityka:
„Gratulation, Bob! Doch ich habe eine Frage: Bedeutet das nicht auch eine Änderung der Grundsätze für die Verleihung? Ein Nobelpreis für gesungene Poesie? Und was ist mit den anderen singenden Barden? Hat jetzt auch Leonard Cohen eine Chance? ... Doch sollte der Literatur-Preis wirklich nur für einen Vertreter der Literatur sein. Denn was hat denn Dylan beispielsweise mit Miłosz oder Szymborska gemein, wenn man nicht seine Musik, sondern nur den Text berücksichtigt? Worin ist er mit Zagajewski vergleichbar, der schon seit Jahren auf der Auswahlliste des Nobelkomitees steht? Dies ist ein Paradigmenwechsel. Einerseits gefällt mir das, andererseits regt es mich auf. Denn damit werden die Regeln auf den Kopf gestellt.“
Auszeichnung für das andere Amerika
Zweierlei Botschaft erkennt Eesti Päevaleht in der Auszeichnung für Dylan:
„Oft hat die Nobelpreis-Verleihung einen politischen Unterton. So auch die gestrige Überraschungsentscheidung, den Literatur-Nobelpreis an den US-Musiker Bob Dylan zu vergeben. An einen Mann, der sich für den Frieden, die Unterdrückten und die Menschenrechte eingesetzt hat. Diese Wahl ist auch vor dem Hintergrund der US-Präsidentschaftswahl bedeutsam, wo die Kampagne ungewöhnlich schmutzig geführt wird. Die Auszeichnung Dylans erinnert daran, dass nicht alle Amerikaner vom Mars stammen. ... Die Nobelpreis-Jury hat mit ihrer Entscheidung aber auch unser Verständnis von Literatur erschüttert: Um der beste Schriftsteller der Welt zu sein muss, man nicht zig dicke Bücher geschrieben haben. In einem wirkungsvollen Liedtext kann mehr Botschaft und Kunst stecken, als in tausend Romanen.“
Endlich mal ein Dichter, der singt
Der Schriftsteller Dan Sociu ist in Digi 24 voll des Lobes für die Juryentscheidung:
„Mir gefällt, dass ein Troubadour ausgezeichnet wurde, denn zu einem Dichter gehört nun mal auch die Stimme, ganz gleich, ob er die Verse singt oder nur rezitiert. An Dylans Stimme ist besonders, dass er emotional unterstreicht, was er sagt. ... Zur Poesie gehört auch der Klang der Worte, nicht nur ihr Sinn und die Stimme des Dichters erzählt mehr als nur das Gedruckte. Wer jetzt sagt, dass der Nobelpreis nur an einen Texter und Komponisten ging, hat nicht verstanden, was Poesie ist. Dylans Name steht in allen wichtigen Anthologien der amerikanischen Dichtkunst, also bräuchte es eigentlich gar keine Diskussion darüber.“