Was sagt das Parlament zum Brexit?
Premierministerin May hat die Parlamentarier davor gewarnt, sich gegen das Brexit-Votum der Briten zu stellen. Ein Londoner Gericht hatte vergangene Woche geurteilt, dass der Austritt Großbritanniens aus der EU nicht ohne Zustimmung des Parlaments eingeleitet werden darf. Einige Kommentatoren finden, dass das Parlament beim Brexit nichts mitzureden hat. Andere freuen sich, dass die Abgeordneten nun Stellung beziehen müssen.
Nun müssen Abgeordnete auch nicht mehr mitreden
Das britische Unterhaus hat das Referendum über den EU-Austritt 2015 gebilligt und damit heute kein Mitspracherecht mehr, argumentiert Kolumnist Dominic Lawson in der Sunday Times:
„Kann ein Regierungschef ein stärkeres Mandat erhalten als eines, das direkt vom Volk in einem Referendum gegeben wurde? ... Mir ist vollkommen bewusst, dass Großbritannien eine parlamentarische Demokratie ist. Doch im Jahr 2015 beschloss das Parlament - sechs von sieben Abgeordneten waren dafür -, die Entscheidung den Wählern zu übertragen. Der Antragsteller des entsprechenden Gesetzes erklärte, dies bedeute, dass 'die Entscheidung über unsere EU-Mitgliedschaft von den Briten getroffen werden soll, nicht von den Abgeordneten dieser Kammer'. Wenn der Geist dieser Verpflichtungserklärung wissentlich missachtet wird, wird es der Ruf des Parlaments sein, der den schlimmsten Schaden erleidet.“
Politiker dürfen sich nicht länger drücken
Nun müssen die Abgeordneten endlich Klartext reden, nachdem sie sich dem Thema Brexit monatelang entzogen haben, freut sich Helsingin Sanomat:
„Das Parlament in London gilt als die Mutter der Parlamente. Es war weltweit immer Vorbild für eine Form der Machtausübung, bei der die Regierung angewiesen ist auf das Vertrauen der Parlamentsmehrheit. Für die Entscheidungen sind im Parlamentarismus die vom Volk gewählten Abgeordneten verantwortlich, die das Volk um Rat fragen können. Die britischen Politiker haben sich jedoch monatelang vor der Verantwortung für den EU-Austritt gedrückt, dessen Folgen unabsehbar sind. Kaum jemand glaubt wirklich daran, dass der Brexit aufgegeben wird, aber dass die Entscheidung nach einer Debatte im Parlament getroffen werden muss, zwingt die Politiker nun dazu, Verantwortung für einen Prozess zu übernehmen, den sie selbst angestoßen haben.“
Missbrauch des Justizsystems
Das britische Volk hat sich für den Brexit entschieden und die damit verbundenen politischen Fragen sind nicht Sache der Gerichte, schimpft The Daily Telegraph:
„Es gibt Situationen, in denen die Gerichte am besten handeln, indem sie sich aus einer Angelegenheit heraushalten. Und hier haben wir es eindeutig mit einer solchen Situation zu tun. Nicht alles ist 'ausschließlich rechtlich' zu betrachten. … Wie wichtig dieser Grundsatz ist - sowohl für den Brexit als auch für das künftige verfassungsmäßige Gleichgewicht des Landes - kann gar nicht oft genug betont werden. Wir haben es hier mit einer gefährlichen Situation zu tun, denn dieses Rechtsverfahren stellt einen Missbrauch des Justizsystems dar: Es soll den Brexit trotz des Votums des Volks verzögern oder verhindern. Es gibt verfassungsmäßige und es gibt politische Fragen. Unser System kann nur funktionieren, wenn die Gerichte darauf achten, zwischen beiden zu unterscheiden. In diesem Fall haben sie dabei versagt.“
Fahrplan für Austritt gefährdet
Für die britische Politik ist das Urteil des Gerichts bedenklich, findet Polityka:
„Die Entscheidung der Richter verkompliziert das Leben der Regierung, weil dadurch der Fahrplan für den Austritt wieder in Frage gestellt wird. Darüber hinaus betrifft sie den Kern des Brexits: nämlich den Inhalt der Verhandlungen [mit der EU]. Wenn sich nun die Regierung ans Parlament wenden muss, hat sie damit zu rechnen, dass die Abgeordneten mitreden werden. Sie können Druck auf die Regierung ausüben, damit die Verhandlungen weniger hart geführt werden. Es könnte sogar zu einer heftigen Debatte kommen, an deren Ende der Rücktritt der Regierung und vorgezogene Wahlen stehen. ... Dies wäre in der Heimat des Parlamentarismus fast eine Art Selbstmord. So sind auf der Insel schon Stimmen zu hören, dass dieses Urteil nicht bindend sei. Denn der im Referendum vom Juni geäußerte Volkswillen sei am allerwichtigsten.“
Wichtige Legitimation für den Brexit
Dass der EU-Austritt vom Parlament abgesegnet werden muss, ist richtig, kommentiert die Neue Zürcher Zeitung:
„Brexit heisst Brexit, hat Theresa May immer und immer wieder versichert. Daran wird sich auch nach dem Richterspruch vom Donnerstag kaum etwas ändern. ... Für Grossbritannien wäre ein breites Nachdenken über Weg und Ziel des Austritts bzw. der künftigen EU-Beziehungen aber eine gute Entwicklung. Mit dem blossen Mehrheitsentscheid in einem von Fehlinformationen, Lügen und Widersprüchen geprägten Abstimmungskampf allein hat die Bevölkerung der Regierung noch lange kein politisches Mandat für die Art und Weise gegeben, wie sie die künftigen Verhältnisse gestalten soll. Diese Legitimation muss sich die Regierung erst beim Parlament einholen - je früher, umso besser.“
Mays Einspruch ist nur konsequent
Es ist richtig, gegen das Urteil Berufung einzulegen, meint der liberale Essayist und Berater Mathieu Laine in Le Point:
„Die Aufgabe von Theresa May, die offenbar auf einem Drahtseil läuft, scheint unlösbar: Man kann nicht eine mächtige Wirtschaft bewahren und eine Gesellschaft, deren Toleranz und multikulturelles Zusammenleben beispielhaft sind, und gleichzeitig diejenigen zufriedenstellen, die Ukip Aufwind verschaffen, den polnischen Klempner verabscheuen und sich nostalgisch nach einem den Briten vorbehaltenen Königreich sehnen. ... Aus diesem Grund muss May gegen das Urteil des Londoner Gerichts Berufung einlegen. Ihr Mandat, so muss sie zumindest glauben machen, ist die radikale Umsetzung des Volksentscheids. Sollten Justiz und Parlament sie daran hindern, hat sie, die zurückhaltend für einen Verbleib geworben hatte, wenigstens ihre klare Absicht gezeigt.“
Urteil stellt Weichen für den "Soft-Brexit"
Die Mitsprache des Parlaments könnte die Weichen für einen weniger harten Brexit stellen, mutmaßt Il Sole 24 Ore:
„Das Parlament wird das Vetorecht und die Kontrolle der Verhandlungen mit Brüssel einfordern und auf diese Weise den harten Brexit vermeiden, der paradoxerweise der von London bevorzugte Ansatz geworden zu sein schien, wenngleich das Volk dies gar nicht wollte. Das Referendum beinhaltet weder ein 'Ja' zu einem gewaltsamen Bruch der anglo-europäischen Beziehungen, noch diktiert es das letzte Wort in diesem sagenhaften Schlamassel, den David Cameron seinem Land und der ganzen Welt hinterlassen hat. Eine dahingehende Auslegung [des Volkswillens] wurde aber von den Brexit-Befürwortern akzeptiert und anscheinend auch von Theresa May übernommen. Das gestrige Urteil geht selbstredend weder auf die Optionen für politische Strategien noch für künftige Verhandlungen ein. Es beschränkt sich darauf, dem Parlament seine Befugnisse zu geben, die ihm zustehen.“
Alles nur viel Lärm um nichts?
Sollte es nun doch nicht zum Brexit kommen oder nur zu einer abgemilderten Variante, wären die vergangenen Monate und Jahre eine einzige Komödie gewesen, schimpft Duma:
„Die Geschichte mit dem britischen Referendum könnte sich am Ende als viel Lärm um nichts erweisen. Die Briten wollen die EU verlassen, die EU-Spitzen spielen die beleidigte Leberwurst und wollen sie so schnell wie möglich loswerden. Gleichzeitig weichen beide Seiten einen Schritt zurück. Aus verschiedene Quellen sickert bereits durch, dass Kompromissvarianten erarbeitet werden, die den Brexit verlangsamen oder gar aussetzen sollen. Trotzdem gibt sich May vor den Briten kategorisch: Das Volk habe gesprochen, also werde man austreten. Das traurigste dabei ist, dass niemand in Europa eine Lehre daraus zieht, dass die Briten lieber das Risiko eingehen, sich ins Unbekannte zu stürzen als in der EU zu verbleiben.“
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