Wie versöhnlich ist Trump wirklich?
In seiner ersten Rede vor dem Kongress hat Donald Trump ungewöhnlich friedfertige Töne angeschlagen: Er sei hier, um eine Nachricht von Einheit und Stärke zu verkünden, und sie komme tief aus seinem Herzen. Gleichzeitig beschwor der Präsident eine äußerst nationalistische Vision von der Zukunft der USA. Europas Presse will sich von dem moderateren Redner nicht einlullen lassen.
Überraschend differenzierte Töne
Angenehm überrascht ist Gazeta Wyborcza von den moderaten Tönen Trumps:
„Das Bild Amerikas, das Trump in dieser Rede vor dem Kongress gezeichnet hat, unterschied sich erheblich von dem, das er in seiner Antrittsrede präsentiert hat. ... Es war schon überraschend, dass er einen differenzierten Ton angeschlagen hat und reale Probleme beschrieben hat und keine Katastrophenvisionen. Anstatt bedingungslos diejenigen anzugreifen, die mit seiner Analyse über den Zustand Amerikas nicht einverstanden sind, hat er an gemeinsame Werte und Ziele appelliert. ... Allerdings hat Trump lediglich gezeigt, dass er fähig ist, etwas zu sagen, was das Publikum gerade hören will. Dass er tatsächlich jemand ganz anderes ist als bisher, muss er mit Taten beweisen und nicht nur mit Worten.“
Genie oder Amateur?
Dass die Rede Trumps so positiv aufgenommen wurde, wundert Delo:
„Trump hat die Messlatte so niedrig angelegt, dass eine einzige manierliche Rede, in der niemand von ihm beschimpft, angegriffen, beleidigt oder als Volksfeind bezeichnet wurde, fast einhellige Bewunderung hervorgerufen hat. Die Experten im Fernsehen waren begeistert, weil er nicht wie ein Diktator klang. ... Der Präsident der wunderbaren Mauer und der Austreibung schlechter 'Hombres' hat plötzlich die Bereitschaft angedeutet, Millionen von Menschen Aufenthalt in den USA zu gewähren. Das stand in völligem Gegensatz zu den Kampfschreien des Kerns seiner Unterstützer. ... Da stellt sich die Frage: Sehen wir da ein Genie am Rande des Wahnsinns, das durch Improvisationsgeschick den politischen Raum umgestaltet, oder erleben wir einen undisziplinierten politischen Amateur, der nicht widerstehen kann, stets zu kokettieren?“
Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Auch Avvenire traut dem schönen Schein nach der Rede des US-Präsidenten vor dem Kongress nicht:
„Wir dürfen uns auf keinen Fall blenden lassen. Auch wenn er zumindest vorläufig das apokalyptische Szenario eines Gemetzels an den Amerikanern hinter sich gelassen hat, das er noch in seiner Antrittsrede evozierte, bleibt The Donald von ganzer Seele ein Antipolitiker. ... Ein bisschen Dr. Jekyll, ein bisschen Mr. Hyde. Nach der Rolle des brutalen Marktschreiers, in der er halb Amerika betörte, schlüpft er nun in die des Staatsmannes, der in seiner Entschlossenheit entgegenkommend und der Gewaltenteilung gegenüber unerwartet respektvoll ist. Zwei Masken, die jeder Populist, der etwas auf sich hält, je nach Bedarf aufzusetzen weiß.“