Gewalt in Syrien: Droht ein neuer Bürgerkrieg?
In Syrien ist es zum bisher blutigsten Ausbruch von Unruhen seit dem Machtwechsel vor drei Monaten gekommen. Der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge wurden in der Küstenregion mehr als 1.300 Menschen getötet, darunter mindestens 830 Angehörige der alawitischen Minderheit, der auch der vertriebene Diktator Baschar al-Assad angehört. Beobachter werfen regierungsnahen Sicherheitskräften Massaker vor. Europas Presse ist besorgt.
Zweifel an Absichten der Regierung
Die Neue Zürcher Zeitung zweifelt daran, dass Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa seine Versprechen einlöst:
„Spätestens jetzt sollte der ehemalige Milizenführer seine Ankündigungen in die Tat umsetzen. Syrien verfügt über zahlreiche religiöse und ethnische Gruppen, die miteinander konkurrieren und untereinander offene Rechnungen haben. Die Konflikte zwischen diesen Gruppen treten inzwischen immer deutlicher hervor. ... Dass Sharaa viele seiner Ankündigungen bislang nicht umgesetzt hat, trägt zum Zögern vor allem westlicher Staaten bei, die Sanktionen aufzuheben – und lässt den Unmut in Syrien wachsen. Der Verdacht liegt nahe, dass es Sharaa mit seinen Versprechen von Inklusion und Gleichheit nicht ganz so ernst meint und vielmehr seine eigene Macht konsolidieren will.“
Blutvergießen sofort stoppen
Syrien droht eine neue Phase heftiger interner Konflikte, warnt De Volkskrant:
„Auch verschiedene fundamentalistische und andere militante Gruppierungen, genau wie die Nachbarländer Israel, Türkei und Iran haben Gründe, einen starken neuen syrischen Staat zu sabotieren. ... [Übergangs-Präsident Ahmed al-Scharaa] hat mit dem Versprechen einer Regierung der Einheit, in der auch Frauen, Drusen, Christen und Alawiten einen Platz bekommen sollten, vorerst das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft gewonnen. Diese Unterstützung wird er sofort verlieren, wenn es ihm nicht gelingt, die ethnische Gewalt gegen unschuldige Bürger in seinem Land zu stoppen. Ein neuer Bürgerkrieg ist dann nicht weit weg.“
Viele wollen den neuen Staat scheitern sehen
Der Standard ist vom Aufflammen der Kämpfe nicht überrascht:
„Es war eine angekündigte Katastrophe: Nach dem Sturz des Regimes von Bashar al-Assad vor drei Monaten, der für Anhänger und Gegner völlig überraschend kam, zogen sich alawitische Assad-Gefolgsleute, auch mangels Alternativen, in ihre angestammten Gebiete an der Mittelmeerküste um Latakia zurück. Dass sie sich nicht widerstandslos der – zudem wenig vertrauenswürdigen – Justiz der neuen Machthaber ausliefern würden, war zu erwarten. ... Klar ist weiter, dass Kräfte von außen, die gemeinsam mit Assad die Macht verloren haben – der Iran und seine Vasallen wie die libanesische Hisbollah –, Interesse daran haben, dass das neue Syrien scheitert.“
Damaskus braucht ein Gewaltmonopol
Die neuen Machthaber müssen Recht und Ordnung durchsetzen, mahnt The Spectator:
„Ohne Recht und Ordnung enden Bürgerkriege nicht einfach. Sie bluten weiter, von Ereignis zu Ereignis. Diese Art von Gewalt ist gefährlich: Sie bedroht das Überleben des Landes. Die neuen Machthaber in Damaskus dürfen nicht zulassen, dass sich diese Gewalt fortsetzt. ... Echter Frieden muss gesellschaftlicher Frieden sein, und gesellschaftlicher Frieden erfordert ein Gewaltmonopol. Jetzt werden sich viele Gruppen im ganzen Land, Kurden im Norden und Osten, Drusen im Süden, umso fester an ihre Waffen klammern. ... Die Ereignisse dieser Woche haben Syriens Streben nach Frieden und Wiederaufbau weit zurückgeworfen.“
Internationales Eingreifen nötig
Politologe Nikolaj Mitrochin hat aktuelle Videos aus Syrien gesichtet und befürchtet auf Facebook, dass das Schlimmste noch bevorsteht:
„Dort wird jetzt ein Völkermord vorbereitet. ... Es gibt schon über 30 Videos von Erschießungen. Auf einigen von ihnen sind noch leere, frisch ausgehobene Massengräber (eher Gräben) zu sehen, die für Hunderte von Opfern ausgelegt sind und in denen bisher nur einzelne Leichen liegen. Ein sofortiges internationales Eingreifen ist notwendig, sonst wird es zu spät sein.“