Wird die 28-Stunden-Woche zum Erfolgsmodell?
Nach sechs Verhandlungsrunden haben sich Arbeitgeber und Gewerkschaften der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg auf einen neuen Tarifvertrag verständigt. Die Arbeitnehmer erhalten ab April 4,3 Prozent mehr Geld und den Anspruch auf eine verkürzte Vollzeit von bis zu 28 Wochenstunden für maximal zwei Jahre. Diese Einigung sollte nicht nur in Deutschland Schule machen, applaudieren Kommentatoren.
Mit mutigem Beispiel voran
Deutschland steuert in die Zukunft der Arbeitswelt, jubelt La Stampa:
„Die Flexibilität ist nicht länger einseitig, die Veränderung der Arbeitszeit kann nun auch von den Arbeitnehmern eingefordert werden, wo dies bislang - in Deutschland und überall auf der Welt - einzig den Unternehmen oblag. Die Flexibilität erhält somit zumindest teilweise ihren Einzug in die Entscheidungssphäre des Arbeitnehmers und verleiht ihm eine größere Kontrolle über sein Privatleben. Verhandlungen von Arbeitsverträgen werden künftig nicht mehr nur Lohnforderungen betreffen, sondern auch die Freizeit. Das wird die Binnennachfrage nach Konsumgütern stärken und folglich - da die Vereinbarung auch in anderen Teilen Deutschlands geltend gemacht werden wird - das Wachstum ankurbeln, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa.“
Wer sät, der erntet
Frankreich sollte sich an Deutschland ein Beispiel nehmen, rät L'Opinion:
„Seit Einführung der 35-Stunden-Woche belastet die hohe Arbeitslosigkeit Frankreich. Und keinem Präsidenten ist es seitdem gelungen, den uneingestandenen Konsens zu brechen, demzufolge lieber Zeit und Geld an die 'Insider' zu verteilen ist, als den Vergessenen des Systems Arbeit zu geben. Ebenso wenig konnte der Teufelskreis durchbrochen werden, den wir 'Modell' nennen und in dem Abgabenerhöhungen der Preis dafür sind, Sozialtransfers an immer mehr Ausgeschlossene zu finanzieren. … Deutschland zeigt hingegen, dass der Kampf von gestern für mehr Wettbewerbsfähigkeit die Vollbeschäftigung von heute und die Lohnerhöhungen von morgen bewirkt. Ein Beispiel, dem man folgen sollte.“
IG Metall eröffnet wichtige Debatte
Die IG Metall hat eine Debatte angestoßen, deren Bedeutung weit über Deutschland hinausgeht, lobt die Wiener Zeitung:
„Aus Sicht der Arbeitgeber kann es nicht sein, dass die Arbeitnehmer allein über ihre Arbeitszeit entscheiden - und das auch noch ohne Lohneinbußen. ... Auf der anderen Seite erleben wir gerade, wie jüngere Generationen nach einer neuen Balance zwischen ihrem Arbeits- und Privatleben suchen, bei der nicht mehr nur die Karriere im Vordergrund steht. Noch ist das vor allem ein Privileg der Bessergebildeten und Flexiblen, aber die Sehnsucht danach ist bedeutend größer. Die Gewerkschaft macht diese gesellschaftspolitische Frage nun zum Gegenstand eines Tarifkonflikts mit der Wirtschaft. Man kann durchaus der Meinung sein, dass dies eine Sache ist, mit der sich die Politik beschäftigen sollte.“
Starke Forderung einer mächtigen Gewerkschaft
Wie gewichtig dieser Streit zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ist, schildert Libération:
„Wenn man für die Situation keine Lösung findet, dann könnte sich zu Deutschlands politischer Krise (Angela Merkel sucht seit der Wahl im September nach einer Koalition) eine soziale Krise gesellen. Denn die Gewerkschaft schließt einen harten Streik nicht aus. Das gab es seit 2003 nicht mehr. ... Zur Erinnerung: Die Vier-Tage-Woche wurde schon 1994 für die Volkswagen-Arbeiter eingeführt. Die damalige Situation war aber völlig anders. Es ging darum, gegen die Rezession anzukämpfen und 30.000 Arbeitsplätze zu erhalten. ... Heute geht es darum, die Aufteilung der Arbeitszeit moderner zu gestalten und sie mit Familie und Freizeit in Einklang zu bringen.“