Causa Selmayr treibt Brüssel um
Auch das EU-Parlament hat sich zuletzt mit der umstrittenen Beförderung Martin Selmayrs zum Generalsekretär der EU-Kommission beschäftigt. Der deutsche EU-Diplomat und bisherige Kabinettschef Junckers hatte am 1. März den höchsten Beamtenposten der Brüsseler Behörde übernommen. Die Art und Weise der Jobvergabe beschädigt das Image der EU weiter, kritisieren Kommentatoren.
Futter für die EU-Skeptiker
Der politische Kollateralschaden in der Causa Selmayr ist schon jetzt immens, meint die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„All jene, für die Brüssel Synonym für selbstgerechte, nur um sich selbst drehende Apparatschiks ist, werden sich in diesem Urteil bestätigt sehen. In Zeiten, in denen die Euroskepsis nach wie vor virulent ist, wäre es ratsam, sollte man meinen, dieser Skepsis nicht noch Futter zu geben. Und die unter dem Eindruck des Brexit-Votums gemachten Beteuerungen nicht einzukassieren, fortan Transparenz und Bürgernähe großzuschreiben. In einem Resolutionsentwurf des Europaparlaments ist von 'putschartiger Aktion’ die Rede. Das ist rhetorisch überzogen. Aber die Sache hat das Ansehen von 'Brüssel' gewiss nicht gemehrt.“
In Osteuropa kommt uns das bekannt vor
Vetternwirtschaft funktioniert also im Westen genauso wie im Osten, wird der Tageszeitung Trud anhand der Beförderung Martin Selmayrs klar:
„Seit Wochen sorgt der Name Selmayr für Anspannung in den Brüsseler Amtsstuben. ... In jedem geschlossenen Ökosystem, so auch in Brüssel, gibt es Jäger und Gejagte. Martin Selmayr, den die Beamten der EU-Kommission liebevoll 'Rasputin' und 'Beast of Berlaymont' nennen, gehört definitiv zu den Ersteren. Er sitzt an der Spitze der Nahrungskette der europäischen Administration. Wie er dahin kam, erinnert aber mehr an Praktiken, die man normalerweise aus den Ländern östlich von Wien kennt und nicht so sehr aus den sogenannten 'westlichen Demokratien'. Nun versuche einer zu behaupten, es sei nicht überall dasselbe.“
Zeit für ehrliche Personalpolitik
Der Fall Selmayr beschädigt die Glaubwürdigkeit von Kommissionspräsident Juncker, stellt tagesschau.de fest:
„Die EU macht sich damit angreifbar gegenüber Europagegnern und Populisten. Und das ist brandgefährlich - gerade in einer Zeit, in der europafeindliche und rechtsgerichtete Parteien an immer mehr Regierungen beteiligt sind, wie etwa in Österreich. Und Populisten starken Zulauf bekommen, wie zuletzt die Wahl in Italien gezeigt hat. Und: Die EU macht sich durch solche Postenschiebereien noch unbeliebter bei vielen Bürgern. Wen wundert es, wenn die Leute politikverdrossen werden. Die EU-Kommission muss ihre Beförderungsverfahren ändern. Alle Stellen, vor allem die Spitzenposten, müssen ausgeschrieben werden und es muss mehrere, echte Bewerber geben. Nur so gibt es die Chance, dass Junckers Kommission Glaubwürdigkeit zurückgewinnt.“
Juncker bricht seine Versprechen
Ein solches Geklüngel kann sich die EU nicht erlauben, findet auch Le Monde:
„14 Monate vor der Europawahl muss sich Brüssel angesichts zunehmender europa- und systemfeindlicher Stimmen davor hüten, das Image einer volksfernen Elite zu bedienen. Die Causa Selmayr steht für einen Technokraten, der niemand anderem als seinem Mentor Rechenschaft schuldig ist. Sie führt im denkbar ungünstigsten Augenblick vor Augen, wie abgekapselt die von Karrierekalkülen und Machtspielen durchdrungene Verwaltung ist. Jean-Claude Juncker hatte sich zum Ziel gesetzt, sich auf die wesentlichen Themen zu konzentrieren und dem Bürokratiewahn ein Ende zu setzen, denn dieser bringe Europa um seine Seele und Beliebtheit. Die Nominierung Selmayrs ist mehr als ein Fauxpas: Sie zeigt, dass er dieses Versprechen vergessen hat.“
Clash der EU-Kulturen
Die Proteste aus Paris angesichts der Ernennung Selmayrs kann der EU-Korrespondent von De Morgen, Jelte Wiersma, gut verstehen:
„Fast alle EU-Spitzenpositionen gingen in den letzten Jahren an Deutsche. Nicht umsonst beißen sich daher auch die Franzosen an Selmayr fest. Sie hatten als großes Land ein Recht auf viele Spitzenpositionen, aber verlieren dieses Recht mit der Aufgabe des Nationalitätssystems. Nach dem neuen, in Deutschland und Belgien bereits bekannten Loyalitätsmodell werden Beamte nach ihrer politischen Partei ernannt. Nicht Objektivität oder Nationalität zählen, sondern die 'richtigen' Auffassungen. ... Bei der Affäre Selmayr dreht sich alles um Macht, aber vor allem auch um Kultur.“
Schlecht für Glaubwürdigkeit der EU
Angesichts des wieder begonnenen Kungelns um europäische Spitzenjobs kann die Süddeutsche Zeitung nur den Kopf schütteln:
„Eineinhalb Jahre bevor eine neue EU-Kommission ins Amt kommen wird, steht schon jetzt fest, wer diese Behörde dann leiten soll. ... Im Falle Selmayr zählt für die Bundesregierung, dass sie in ihm den mächtigsten Beamten der Behörde stellt. Ihr Einfluss in der Kommission ist gesichert, egal, wer unter ihm 2019 Präsident wird. Aus deutscher Sicht darf die Berufung Selmayrs sogar als doppelter Coup gelten. Sie lässt Berlin jede Freiheit, bei der Entscheidung über den nächsten Präsidenten der Europäischen Zentralbank den eigenen Kandidaten ganz nach vorne zu schieben. Das mag im nationalen Interesse liegen. Der Glaubwürdigkeit Europas hilft es nicht.“
Pakt zwischen Berlin und Paris
Die neue deutsch-französische EU nimmt Gestalt an, konstatiert La Repubblica:
„Mit dem neuen EZB-Vizepräsidenten de Guindos haben die Länder des Nordens, angeführt von Angela Merkel, ihre Karte ausgespielt, um Jens Weidmann den Weg als Nachfolger von Mario Draghi an die Spitze der EZB zu ebnen. Die Mittelmeerländer werden alles versuchen, um das zu verhindern. Doch Berlin wird sich - gestärkt durch den Pakt mit Paris - kaum einen Kandidaten aufzwingen lassen. ... Ein Pakt, der vorsieht, dass ein Franzose Präsident der EU-Kommission wird. Diese These wird nun durch die Ernennung des Deutschen Selmayr untermauert, denn als Generalsekretär der Exekutive kann er alle Aktivitäten Brüssels kontrollieren. Das Amt von Juncker selbst würde dann 2019 ein Franzose übernehmen. In der Poleposition befindet sich Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier.“