Neue Gnadenfrist für den Brexit
Die EU-Mitgliedstaaten haben Großbritannien einen Brexit-Aufschub bis Ende Oktober gewährt. Während die Mehrheit die Frist bis Jahresende verlängern wollte, hatte Paris auf eine möglichst kurze Vertagung gedrängt, um die Arbeit der Union nicht weiter zu blockieren. Ein Grund zum Aufatmen oder nur eine qualvolle Verlängerung des Brexit-Dramas?
Immer noch besser als ein No-Deal-Chaos
Die EU hat die richtige Entscheidung getroffen, lobt The Times:
„Die Brexit-Unsicherheit mag bisher destabilisierend auf die EU gewirkt haben. Doch die Folgen eines chaotischen No-Deal-Austritts der Briten wären viel schlimmer. Die EU könnte sich in diesem Fall nicht vor weiterer Brexit-Instabilität schützen, sondern sie würde diese in ihre eigenen Gremien hineintragen, nicht zuletzt in der Form des Problems der inneririschen Grenze. Darüber hinaus sind die drängendsten Herausforderungen, denen sich die EU gegenübersieht, nur in enger Partnerschaft mit Großbritannien zu bewältigen. Nach einem echten Bruch könnte es Jahre dauern, die Beziehung zu kitten.“
Europa weiter in der Schwebe
Der Aufschub des Brexit bis Ende Oktober ist weder Fisch noch Fleisch, kritisiert die Tageszeitung Die Presse:
„Mit diesem Aufschub ist weder genug Zeit für eine grundlegende politische Neuordnung im Vereinigten Königreich gegeben (sei es durch vorgezogene Neuwahlen oder durch eine zweite Volksabstimmung), noch hat er den Umstand beseitigt, dass der Brexit weiterhin einen großen Teil der Aufmerksamkeit und Zeit der europäischen Entscheidungsträger in Brüssel und in den Hauptstädten in Anspruch nimmt. Glaubt jemand ernsthaft, dass die Gipfeltreffen bis dann brexitfrei sein werden? Zudem werden die Chefposten in Kommission, Europäischem Rat, Europaparlament und Europäischem Auswärtigem Dienst üblicherweise zwischen Juli und Oktober ausgehandelt. Da sind die Briten aber noch Mitglied, mit allen Rechten und Pflichten.“
Frankreich ist des Brexit überdrüssig
Warum Paris einen Brexit-Aufschub verhindern wollte, erklärt Kolumnistin Xenia Tourki in Phileleftheros:
„Frankreich hat immer mit den Bemühungen Großbritanniens gekämpft, so viel wie möglich von der europäischen Familie zu profitieren, wenig zu geben und Distanz zu wahren. Die Kontroversen beider Länder waren groß, obwohl ihre Zusammenarbeit in vielen Bereichen einwandfrei war. Der Brexit war jedoch die Ursache für neue Konflikte. Die Unentschlossenheit Londons provozierte in Paris Zorn, so dass viele Beobachter in Macron einen neuen Charles de Gaulle sahen [der Großbritannien seinerzeit nicht in der EG haben wollte]. ... Frankreich und die anderen Mitgliedstaaten sind müde von der Unsicherheit. Die Blockade durch den Brexit muss endlich beendet werden, damit die EU sich endlich auf die ernsthaften Probleme konzentrieren kann, mit denen sie konfrontiert ist.“
EU hat Wichtigeres zu erledigen
Das endlose Brexit-Theater raubt der EU wichtige Kraft, stöhnt L'Echo:
„So viel verlorene Energie! Wenige Wochen vor der Wahl geht es in den wichtigen Momenten der EU-Gipfel nur noch um den Brexit. Soziales? In der Schublade. Vollendung der Eurozone? Steckt noch in den Kinderschuhen. Auf diesem Sondergipfel hat man gespürt, dass die Führungspolitiker der EU erschöpft sind. Erschöpft von dem Thema und der Unfähigkeit der britischen Nationalisten, ihr politisches (Nicht-)Projekt abzuschließen. Der Brexit nimmt der Europäischen Union jeden Tag etwas mehr von ihrer Schaffensenergie. Höchste Zeit für einen Elektroschock! Hoffen wir, dass es bei der Wahl dazu kommt.“
May kann nicht aufatmen
Die britische Premierministerin hat vorerst einen ungeregelten Brexit abwenden können, doch ihr Stuhl wackelt, meint El Periódico de Catalunya:
„Der neue Brexit-Zeitplan ändert nichts an der ungewissen politischen Zukunft von May. ... Die Europa-Skeptiker werfen ihr vor, den Prozess zu lange hinausgezögert zu haben und empfinden jeden weiteren Aufschub als Beleidigung. Die Premierministerin hat vor einigen Monaten ein Misstrauensvotum überstanden, aber die Empörung mehrerer Pro-Brexit-Minister könnte ihren Fall beschleunigen. Die Zermürbung von Mays Ansehen ist eine der Konsequenzen aus diesem ungewissen Prozess ohne erkennbare Strategie.“