Ist der Spendensegen für Notre-Dame unanständig?
Frankreichs Präsident Macron hat in einer Fernsehansprache angekündigt, die vom Feuer zerstörte Kathedrale Notre-Dame innerhalb von fünf Jahren wieder aufbauen zu wollen. Französische Milliardärsfamilien und andere Spender sagten dafür in kürzester Zeit 700 Millionen Euro zu. Einigen Kommentatoren stößt diese Großzügigkeit sauer auf, während andere sie loben.
Auf einmal findet sich Geld
Tragisch, dass erst nach dem verheerenden Brand im großen Stil für die Restaurierung von Notre-Dame gespendet wird, findet Habertürk:
„Die Franzosen versuchen einerseits, ihre Fassungslosigkeit über die Katastrophe zu verarbeiten und diskutieren gleichzeitig darüber, wie sie diese Kathedrale, eine der wichtigsten Werke der katholischen Welt ebenso wie der Weltarchitektur, wieder aufbauen können. Erstaunlich! Noch vergangene Woche suchte man 150 Millionen Euro für die Restaurierung von Notre-Dame, klopfte dafür an jede Tür, doch als die Kathedrale plötzlich den Flammen zum Opfer fiel, begann es gleich nach dem Brand Spenden zu regnen!“
Milliardäre instrumentalisieren Unglück
Geradezu angewidert vom plötzlichen Spendenregen ist Le Courrier und sieht darin
„eine wahrhaftige Instrumentalisierung des Symbols Notre-Dame durch ultrareiche Geschäftsmänner, die sich in die Rolle von Kathedralen-Rettern hineinträumen. Es sind genau diejenigen, die sich über eine übertriebene Steuerlast beschweren. Genau die, die massive Steuerflucht betreiben. ... Seit fünf Monaten geht ein Teil Frankreichs jedes Wochenende auf die Straße, um unwürdige Lebensverhältnisse anzuprangern: schlechte Wohnbedingungen, miserable Löhne, Demütigungen im Alltag. Weder die selektive Großzügigkeit der Ultrareichen noch der Aufruf zu Solidarität und nationaler Einheit seitens einer Regierung, die gegenüber Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit stur auf taub schaltet, können den immer augenscheinlicheren Graben zwischen diesen beiden Lagern des Landes schließen.“
Wer Reiche besteuert, braucht keine Spenden
Unter einer Gemeinschaft, wie Macron sie für den Wiederaufbau gefordert hat, versteht auch Mediapart etwas anderes:
„Geht es darum, 'gemeinsam zu bauen', müssen wir auch gemeinsam zahlen. Dazu müssen wir auf Steuern zurückgreifen. ... Die Reichsten müssen diesen neuen Kraftakt also vorrangig schultern. Dabei hatten wir ein Instrument, um den Beitrag der Reichsten einzutreiben: die Vermögenssteuer. ... Eine schöne Summe, die der Republik bitter fehlt, um ihr 'tiefes Schicksal' zu realisieren. Fügt man zu dieser Summe noch die Milliarde hinzu, die durch steuerliche Absetzbarkeit von Spenden verloren gehen, stünde uns ein beachtlicher Betrag für den Wiederaufbau der Kathedrale zur Verfügung. “
Der Brand öffnet Herzen und Portemonnaies
Die Geldspenden beweisen für Wedomosti hingegen, wie lebendig das alte Europa noch ist:
„Die Tränen der Pariser und der Touristen, die das Feuer als persönliche Tragödie aufnahmen und die Tonlage der meisten Reaktionen in den sozialen Netzen haben gezeigt, dass derartige Katastrophen in der Lage sind, in den Menschen angesichts eines alle betreffenden Übels ein Gemeinschaftsgefühl zu wecken. ... Welche Bedeutung die Kathedrale in den Herzen der Menschen in aller Welt hat, zeigt das Tempo der Spendensammlung für den Wiederaufbau. ... Die Restaurierung von Notre-Dame wird komplex und langwierig. Doch die Gerüchte über den Untergang des alten Europas samt seiner Werte erwiesen sich erneut als übertrieben.“