Ukraine: Scharfe Kritik an Selenskyj
Nach seiner Amtseinführung hat der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit umstrittenen Personalentscheidung heftige Kritik auf sich gezogen. Zuvor hatte er das Parlament aufgelöst und vorgezogene Neuwahlen in zwei Monaten angekündigt. Selenskyj hat bislang keine eigene Mehrheit im Parlament, um Reformen durchzusetzen. Wie sind seine Manöver zu bewerten?
Endlich die Oligarchen abschütteln
Selenskyj will seinen Wahlkampfberater Bogdan zum Stabschef machen. Der ist Anwalt des Oligarchen Kolomojskyj und hat schon für den gestürzten Präsidenten Janukowitsch gearbeitet. Dass Selenskyj zu Beginn seiner Amtszeit ein zweifelhaftes Netzwerk um sich schart, stört Gazeta Polska Codziennie:
„Es ist schwer zu sagen, ob der von Oligarchen und Schattenmenschen umgebene Selenskyj Lust darauf haben wird, sich denen zu widersetzen, die ihn an die Macht gebracht haben. Doch wenn er sein Land reformieren will, muss er sich von ihnen lossagen. Vor allem sollte er die Beziehungen zu Igor Kolomojskyj und dessen Leuten abbrechen. Andernfalls wird er vom Westen als ein Freund der Oligarchie wahrgenommen und er kann höchstens noch darauf zählen, dass sein Rücken ab und an getätschelt wird. Seine Erklärungen werden dann als leere Worthülsen behandelt. Diese Zeit wird sehr schwierig für ihn.“
Kein guter Start für neuen Präsidenten
Einen Rückfall in alte Zeiten sieht die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Die Mehrzahl derer, die er in die Präsidialverwaltung in Kiew berufen hat, sind Jugendfreunde und langjährige Geschäftspartner ohne jede politische Erfahrung. Über die verfügt zwar der wichtigste unter ihnen, der Leiter der Präsidialverwaltung Andrij Bohdan, aber dafür hat er ein noch größeres Problem: Seine Ernennung ist womöglich ein Verstoß gegen das 'Gesetz zur Reinigung der Staatsmacht', das nach der Revolution 2014 Funktionären des alten Regimes für zehn Jahre die Übernahme von Staatsämtern verbietet. Nimmt man noch hinzu, dass die von Selenskyj verfügte Auflösung des Parlaments rechtlich zweifelhaft ist, dann ergeben seine ersten Tage im Amt kein gutes Bild.“
Ukrainische Politik komplett umgekrempelt
Mit den vorgezogenen Parlamentswahlen und der Abschaffung des Mehrheitswahlrechts könnte Selenskyj ungeahnte Machtfülle erreichen, glaubt der Publizist Roman Romaniuk in Ukrajinska Prawda:
„Wenn er es innerhalb von zwei Tagen seiner Präsidentschaft schafft, alles umzusetzen, was er [im Wahlkampf] angekündigt hat, dann ist es möglich, dass die Selenskyj-Partei mindestens 50, wenn nicht sogar 73 Prozent der Stimmen erhält. ... Dann wird der neu gewählte Präsident tatsächlich eine absolute Mehrheit im Parlament, eine eigene Regierung und die totale Macht haben. ... Und all dies wird er nicht durch einen Putsch oder einen Maidan erhalten, sondern mit der Kraft der alten politischen Eliten. Denn gerade die wollen sich nicht ihre politische Zukunft verbauen und geben ihre ganze Macht in die Hände eines lächelnden Präsidenten.“
Kriegserklärung an die politische Elite
Radio Kommersant FM zeigt sich von der Parlamentsauflösung durch den frisch installierten Präsidenten genauso überrascht wie das etablierte politische System der Ukraine:
„So einen Druck, solche unkonventionellen Schritte ist die ukrainische politische Klasse nicht gewohnt. Bisher galten andere Spielregeln: Vereinbarungen hinter den Kulissen, Absprachen, Deals nach gewissen Regeln und vor allem Interessen. Entsprechend dieser Logik hätte Selenskyj nach der Inauguration einen Dialog beginnen müssen, besser gesagt, ein politisches Feilschen mit den Parlamentsfraktionen. ... Selenskyj hat die Abgeordneten vor vollendete Tatsachen gestellt. Damit hat er der politischen Elite den Krieg erklärt. Das Erstaunlichste aber ist, dass diese vor kurzem noch so bedrohlich erscheinenden Eliten vor dem neuen Präsidenten bereits kapituliert haben.“
Neuer Präsident schwach und chaotisch
Was der neue Präsident bisher geleistet hat, ist alles andere als ermutigend, sorgt sich The Times:
„Es gibt beunruhigende Anzeichen dafür, dass sich Wolodymyr Selenskyj als schwacher oder chaotischer politischer Führer erweisen wird. ... Seine Bewegung ist nicht im Parlament vertreten, und es fehlen ihr die Ressourcen, sich rechtzeitig für vorgezogene Wahlen zu organisieren. Es ist nicht einmal klar, ob Selenskyj das verfassungsmäßige Recht hat, dem Parlament Neuwahlen aufzuzwingen, ohne vorher die politischen Parteien konsultiert zu haben. Er ist weiterhin mit Vorwürfen angreifbar, er stehe Oligarchen zu nahe. Einer von ihnen, Igor Kolomojskyj, ist kürzlich aus dem selbst gewählten Exil in die Ukraine zurückgekehrt. Offensichtlich fühlt er sich dort jetzt sicherer als unter dem vorigen Präsidenten.“
Kein Ukrainer soll mehr weinen
Selenskyj hat zum Amtsantritt eine gute Figur abgegeben, findet Newsweek Polska:
„Für die Wähler ist es das Wichtigste, dass sie den Oligarchen Petro Poroschenko losgeworden sind, der möglicherweise sogar viel für das Krisenland getan hat - doch das zu langsam und unvollständig. Sie haben jetzt einen neuen Anführer: der während seines Amtsantritts durch den Park ging und den Bürgern High-Fives gab; der fröhlich über den roten Teppich in das Gebäude des Obersten Rates hüpfte. Obwohl er nicht so steif ist wie Poroschenko, sang er die Hymne mit ernstem Gesicht und legte den Eid auf die ukrainische Verfassung ab. Sein Gesicht, das mit Kabarett-Anekdoten in Verbindung gebracht wird, zeigte während der Rede Konzentration und Selbstvertrauen. Mit einem solchen Gesicht kündigte er seinen ersten Wunsch an: Er löste das Parlament auf. Er versprach auch, dass kein Ukrainer mehr weinen würde.“
Neidische Blicke aus Russland
Kremlgegner Gennadi Gudkow zeigt sich in einem Blogbeitrag in Echo Moskwy begeistert von Selenskyj - und wünscht sich einen ähnlichen Schwung in Russland:
„Selenskyj ist das Symbol einer neuen zukunftsgewandten ukrainischen Epoche. ... Vorübergehende Probleme, die es nun gibt, bedeuten wenig gegenüber dem Wesentlichen: Die Bewegung der Ukraine hin zu Freiheit, Fortschritt und europäischer Zivilisation. Das dortige Geschehen wird unweigerlich auch den Wandel des russischen Regimes beschleunigen: Es wird sich entweder (gezwungenermaßen) durch politische Reformen ändern (mit einer Wahrscheinlichkeit von 10-15 Prozent) oder aus Furcht und Ausweglosigkeit die Schrauben endgültig so fest anziehen, dass das Gewinde bricht. Diese Variante ist leider viel wahrscheinlicher. So bleibt uns nur, das triste politische Leben Russlands zu erdulden, zu beobachten und neidisch zu sein.“
Viel Geld und gute Ideen nötig
Die kremltreue Tageszeitung Iswestija schließt sich der Selenskyj-Euphorie nicht an und skizziert die Hauptprobleme, mit denen der neue ukrainische Präsident konfrontiert ist:
„Nach dem Maidan hat sich die Ukraine zum ärmsten Land Europas gewandelt. ... Deshalb ist die Idee des neuen Präsidenten, Millionen ukrainischer Gastarbeiter zurück ins Land zu holen, richtig und zeitgemäß. Doch wer möchte schon in ein Land mit zweifelhaften Perspektiven heimkehren? Dieses Jahr steht die Ukraine vor dem Höhepunkt der Rückzahlungen von Auslandskrediten: Selenskyj muss dafür irgendwie im löchrigen Budget 7,5 Milliarden Dollar finden. Doch das ist noch nicht das Schwierigste: Der auf einer Welle überhöhter Erwartungen ins Amt gekommene neue Präsident muss sich zudem den Kopf zerbrechen, wie er dem riesigen Vertrauensvorschuss seitens des ukrainischen Volkes gerecht werden kann.“