Schicksalswahl in der Ukraine?
In der Ukraine findet am Sonntag die vorgezogene Parlamentswahl statt, die Präsident Wolodimir Selenskyj nach seinem Amtsantritt Mitte Mai ausgerufen hatte. Seine Partei "Diener des Volkes" hat bislang keine Sitze in der Rada, doch Umfragen zufolge könnte sie die absolute Mehrheit erringen. Wie bedeutsam die Wahl für das Land ist, skizzieren Kommentatoren.
Die größte Chance seit 1991
Die Wahl könnte echten Wandel bedeuten, hofft Financial Times:
„Sie hat aber viele Tücken: Die zwei neuen Parteien verfügen über ein kaum ausgearbeitetes Programm, das nur wenig über ihre Wahlversprechen hinausgeht. Auch wenn eine Distanz zur Vergangenheit von Vorteil sein mag, kann sich Unerfahrenheit im knallharten Labyrinth ukrainischer Politik als fatal erweisen. Ein Parlament voller Neulinge kann zu Chaos führen. Auch ist unklar, wie stark die Oligarchen, die das Land lange ausgenutzt haben, die neuen Parteien und ihre Kandidaten finanziert haben. ... Selenskyj sollte einen Sieg am Sonntag nutzen, um eine hochkarätige Regierung unter der Führung eines bewährten Reformers zusammenzustellen. Dann hätte die Ukraine - zumindest auf dem Papier - die größte Chance seit 1991, ihre Zukunft zu ändern.“
Überall Baustellen
Nach der Wahl warten auf die neue Regierung eine lange Liste an Aufgaben, konstatiert Hospodářské noviny:
„Die Lage im Donbass befindet sich seit Jahren in der Sackgasse. Für eine militärische Lösung ist die ukrainische Armee zu schwach. Drängender wird der Exodus von Arbeitskräften. 3,2 Millionen Ukrainer arbeiten im Ausland, bis zu neun Millionen weitere verdienen dort ihr Geld zumindest für ein paar Monate im Jahr. Die Korruption und die fehlenden Reformen bremsen trotz einzelner Fortschritte die Entwicklung der Wirtschaft und Gesellschaft weiterhin aus. Nicht umsonst meinen Analysten, dass die Parlamentswahl noch wichtiger ist, als die des Präsidenten.“
Märchenstunde beim Präsidenten
Rzeczpospolita kritisiert Selenskyjs Wahlversprechen:
„Die Partei des Präsidenten will einen 'ukrainischen Wirtschaftspass' einführen: bei der Geburt eines Kindes würde der Staat ein Sonderkonto eröffnen, auf welches Geld aus dem 'natürlichen Reichtum des Landes' fließen würde. Was das genau heißt, erklärt sie nicht. Es ist auch nicht festgelegt, wie das Hauptziel des wirtschaftlichen Teils des Programms erreicht werden soll - der Lebensstandard in der Ukraine soll über dem durchschnittlichen Lebensstandard in Europa liegen. Das wird nicht einfach sein, schließlich ist er jetzt um ein Vielfaches geringer.“
Putin setzt auf seine Kumpel
Schon die Wahlliste der Oppositionellen Plattform macht die Nähe dieser Partei zum Kreml unübersehbar, schreibt LB:
„Putin ist der Taufpate des Kindes von Wiktor Medwedtschuk, dieser steht auf der Wahlliste der Oppositionellen Plattform - Für das Leben. Das lässt keinen Zweifel daran, auf wen der Aggressor im Osten bei der ukrainischen Parlamentswahl setzt. Auch die Anführer dieser Partei machen keinen Hehl daraus. Sie brüsten sich vor ihren Wählern mit Treffen mit dem Kreml-Chef und versuchen, über den TV-Sender NewsOne, dem wiederum eine Nähe zu Medwedtschuk nachgesagt wird, eine 'Fernsehbrücke' mit dem Propagandasender Rossija 24 zu veranstalten. Eine solche Verbindung zu Russland trägt Früchte. Laut Meinungsforschern besiegt die Oppositionelle Plattform ihre Konkurrenten im Kampf um die prorussischen Wähler.“
Insgeheim wünscht Moskau Selenskyj Erfolg
Die russische Regierung verfolgt im Parlamentswahlkampf eine pragmatische Doppelstrategie: Sie unterstützt Medwedtschuk, ist aber auch nicht gegen Selenskyj, meint Radio Kommersant FM:
„Es sieht so aus, als wäre der Kreml mit einem Szenario zufrieden, in dem die Anhänger des Präsidenten eine Alleinregierung erzielen. ... In diesem Fall sind zwei Varianten möglich - und beide sind für Moskau günstig: Entweder trifft man mit der neuen ukrainischen Führung umfangreiche, bis dato undenkbare Vereinbarungen zum Donbass und anderen Fragen. Das würde die Spannungen mit dem Westen mindern und die Aufhebung der EU-Sanktionen näher bringen. Oder man würde - nachdem man sich von der Kompromissunfähigkeit einer solchen ukrainischen Führung überzeugt hat - auch dem Westen den Gedanken nahe bringen, dass mit Kiew nicht konstruktiv zu reden ist.“