Wie sieht Moskau den Machtwechsel in Kiew?
Die Partei des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskyj hat künftig die absolute Mehrheit der Sitze in der Rada. Abgewählt wurde eine ganze Generation Parlamentarier, die 20 Jahre lang das Geschehen in der Ukraine bestimmt hatten. Insbesondere in Osteuropas Presse fragt man sich nun, was diese Zäsur in Russland auslösen könnte.
Die Ukraine-Fixierung lähmt Russland
Russland sollte sich endlich mental und machtpolitisch von der Ukraine lösen, fordert die Politologin Lilia Schewzowa in Echo Moskwy:
„Die Ukraine ist für Russland nicht nur ein Phantomschmerz, der uns in die Vergangenheit zurückzieht. Russlands Reaktion auf die Ukraine beweist unsere seelische Unfähigkeit, an die Zukunft zu denken. In den Augen des Kremls kann Frieden mit der Ukraine nur gleichbedeutend sein mit einer Rückkehr in Russlands Arme. Doch wie kann man sie zurückholen, wenn zwischen uns 13.000 tote Ukrainer stehen? ... Das Blut hat eine neue Realität geschaffen. Und in ihr wird Russlands Staatlichkeit nur lebensfähig und die herrschende Elite komplexfrei sein, wenn wir uns von der Ukraine-Besessenheit befreien. Wir sollten uns um unsere eigenen Dinge kümmern.“
Ratlosigkeit im Kreml
Gazeta Wyborcza beobachtet eine Sprachlosigkeit auf Seiten des Kremls:
„Die wichtigen Köpfe der russischen politischen Szene schwiegen entgegen ihrer Gewohnheiten nach der Wahl in der Ukraine mindestens bis zum Montagnachmittag. Anscheinend warteten sie auf Signale von oben, durch welche sie deuten könnten, wie der Kreml die neue Situation auffasst. ... Russische Medien erinnern daran, dass Russland viel in den pro-russischen Kandidaten Wiktor Medwedtschuk investierte. Moskau finanzierte den Politiker, Premier Dimitri Medwedew empfing ihn und sicherte zu, dass die Ukraine im Fall seines Wahlsiegs 25 Prozent Rabatt auf russisches Gas erhalten wird. Mit Medwedtschuk als Sieger versprach Moskau auch den Austausch von ukrainischen Kriegsgefangenen. All diese Bemühungen führten jedoch nicht dazu, dass die Zahl der pro-russischen Stimmen gestiegen wäre.“
Moskau will das Schiff endlich versenken
Eine zunehmende Einmischung Moskaus nach dem Sieg für Selenskyj fürchtet Lietuvos rytas:
„Ein großer Teil der Unterstützer der Partei 'Diener des Volkes' haben gegen die Politik der bisherigen Regierung, genannt 'Politik des Krieges' gestimmt, und für einen in welcher Form auch immer gearteten 'Frieden' mit Russland und seinen Marionetten im Donbass. ... Nicht nur der Kreml, sondern auch die Umgebung Selenskyis setzt diesen unter Druck, sich auf Abmachungen mit Russland einzulassen. Wenn dieser Druck fruchten sollte, dann käme Moskau seinem wichtigsten Ziel wieder näher: das Schiff des ukrainischen Staats aus dem Gleichgewicht zu bringen und dann endlich versinken zu lassen.“
Chance für einen Brückenbauer
Selenskyj stehen nun alle Türen offen, meint Večer:
„Der 'Diener des Volkes' hat jetzt mit seiner gleichnamigen Partei alle Möglichkeiten, als Retter seines Volkes in die Geschichte einzugehen. Er hat die Chance, aus seinem Land eine Brücke zwischen dem Osten und dem Westen zu machen und es sieht nicht schlecht für ihn aus. Der angekündigte Gefangenenaustausch und ein eventuelles Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin deuten darauf hin. Die USA sollen sich in diesem Fall nicht einmischen und Europa soll einsehen, dass es nirgendwo bedingungslose Verbündete gibt. Denn alle europäischen Werte, auf die wir schwören und für die wir kämpfen, werden leider sowohl östlich als auch westlich von uns verletzt.“
Ukrainer haben sich von Russland losgesagt
Das Wahlergebnis zementiert die Loslösung der Ukraine aus dem Moskauer Einflussbereich, meint Echo Moskwy:
„'Unser' Medwedtschuk bekam die Silbermedaille und die Stimmen jedes achten Wählers. Aber selbst er sagt, die Krim gehöre zur Ukraine und seine Wähler rennen nicht mit russischen Flaggen und Putin-Porträts im Tarnanzug durch Kiew. Kein einziger ukrainischer Politiker, auch keine Partei, postuliert als Ziel, vor Russland zu kapitulieren, die Krim als russisch anzuerkennen und den Donbass abzutrennen. ... Ja, sie wollen aufhören zu kämpfen und Versöhnung, Handel und sich frei besuchen können. Ja, sie sprechen weiterhin Russisch, egal was war. Aber faktisch niemand will mehr in einer Wohnung mit dem älteren Bruder leben und sich diesem unterordnen.“
Auf den Westen angewiesen
Vor falschen Hoffnungen auf einen Frieden im Donbass warnt die Neue Zürcher Zeitung:
„Solange Russland die ukrainische Souveränität geringschätzt und diesen Staat gewissermaßen als Unfall der Geschichte einstuft, wirkt ein Ende der Einmischung im Donbass illusionär. Die neue Führung in Kiew ist in dieser Situation auf starken Rückhalt aus dem Westen angewiesen. Selenski mag nicht der Wunschkandidat europäischer Regierungen gewesen sein, und Skepsis gegenüber den Fähigkeiten seiner Protestpartei ist angebracht. Aber seine prowestliche Orientierung hat er in den vergangenen Monaten genügend unter Beweis gestellt. Europa und Amerika haben jedes Interesse daran, dass die von ihm versprochenen Reformen gelingen. Dafür braucht Selenski wie sein Vorgänger ausländische Unterstützung - und eine deutliche Sprache gegenüber Moskau.“
Nun muss er liefern
Jetzt geht die Arbeit für den Präsidenten erst richtig los, analysiert Der Standard:
„Bisher war Selenskyj in der bequemen Position, als Präsident Kritik üben zu können, ohne selbst politisch haftbar zu sein. Zwar ist in den zwei Monaten seit Amtsantritt nichts passiert, doch Selenskyj konnte sich stets mit dem Verweis auf die ihm feindlich gegenüberstehende Rada rechtfertigen, die alle seine Gesetzesinitiativen blockierte. ... [N]un muss er liefern! Und die Ukrainer erwarten einiges von Selenskyj. Er ist angetreten mit dem Versprechen, den Krieg im Donbass-Gebiet zu beenden, aber auch das Leben aller Ukrainer zu erleichtern. Der Lebensstandard ist gering, die Wirtschaft braucht neue Impulse. Geld, um beides unter einen Hut zu bringen, gibt es praktisch nicht.“
Politik-Neulinge stürzen das Land ins Chaos
Viele Ukrainer setzen große Hoffnungen auf neue Gesichter im Parlament. Der Schriftsteller Serhij Zhadan teilt diesen Optimismus in Nowoje Wremja nicht:
„Ich denke, in der Ukraine findet gerade ein gewöhnlicher Machtwechsel statt, mit einer in solchen Fällen absehbaren Neuverteilung der Einflussbereiche. … Wie es für uns alle ausgehen wird, liegt auf der Hand: An die Macht sind Menschen gekommen, die - gelinde gesagt - nicht besonders bereit sind für die Herausforderungen, die vor ihnen heute entstehen. Und das ist beunruhigend, denn es wäre äußerst verantwortungslos, das Land, das sich seit mehr als fünf Jahren im Krieg befindet, in Chaos und offene Unkontrollierbarkeit zu stürzen.“
Verhandlungen mit Separatisten sind möglich
Hoffnungen, dass sich in der Ukraine-Krise nun etwas tut, hegt Corriere della Sera:
„Jetzt kann Selenskyj Initiativen ergreifen, ohne die unmittelbaren Auswirkungen auf die öffentliche Meinung in seinem Land zu fürchten. Dies gilt auch für die Separatisten, die nun einen glaubwürdigen, legitimen Gesprächspartner haben (im Gegensatz zum Kreml hielten sie Poroschenko nicht für einen solchen). Doch wird die Initiative wahrscheinlich von Drittländern ergriffen werden müssen, die Teil des so genannten Normandie-Formats sind. ... Gestern Abend ist der x-te Waffenstillstand in Kraft getreten, und es wird erwartet, dass in Kürze ein Gefangenenaustausch stattfindet. Dann werden wir sehen, ob es Deutschland, Frankreich und Russland gelingen wird, Selenskyj und seine Gegner dazu zu bringen, sich auf echte Verhandlungen einzulassen.“
Der toxische Nationalismus ist überwunden
Kommersant skizziert einen sich abzeichnenden Paradigmenwechsel in der Ukraine:
„Mit dem skandalösen Sprachengesetz hielt Poroschenko alles für geritzt. Doch Selenskyj und seine Umgebung geben zu verstehen, dass eine unbedachte Ukrainisierung um jeden Preis unmöglich ist, da sie das Land spaltet. War Poroschenkos Staatsprojekt auf die Außenwelt ausgerichtet, auf eine mythische Integration in die euroatlantische Welt, so ist das sich formierende Projekt Selenskyjs auf das Innere der Ukraine fokussiert. Er lenkt sein Hauptaugenmerk auf den Kampf gegen die Korruption, die Lösung sozialer Fragen, Innovationen und die Entwicklung der Infrastruktur. Und das Allerwichtigste ist für ihn: Frieden im Donbass statt Krieg gegen die Separatisten. Selenskyj kann sich zwar nicht vom massiv erstarkten ukrainischen Nationalismus lossagen, aber er versucht wenigstens, ihn für alle weniger toxisch zu machen.“