INF-Vertrag ist Geschichte
Nach dem Rückzug Washingtons ist Anfang August der INF-Vertrag ausgelaufen. Das Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenwaffen galt bislang als eines der wichtigsten Abrüstungsabkommen zwischen den USA und Russland. Für Beobachter war das Aus des Vertrags letztlich absehbar.
Supermächte wollten nie wirklich abrüsten
Für El País zeigt sich erneut, wer in puncto Atomwaffen die größte Gefahr darstellt:
„Ohne begrenzende Verträge, Multilateralismus, gegenseitige Kontrollen und Vertrauensmaßnahmen setzen die Supermächte in ihrer Sicherheitspolitik wieder auf das Erhöhen der Verteidigungsetats, die Suche von Wunderwaffen, wie sie Putin präsentierte, und schließlich das bedrohliche Wettrüsten. Die größte Gefahr der Verbreitung von Nuklearwaffen geht nicht von Schurkenstaaten wie Nordkorea oder Iran aus. Sie liegt nach wie vor bei den USA und Russland - den einzigen Unterzeichnern des Atomwaffensperrvertrags, die sich vom ersten Tag an der dem Abkommen zugrundeliegenden Philosophie - der allgemeinen Abrüstung von Kernwaffen - widersetzten.“
Was der Nachbar hat, will Russland auch
Der INF-Vertrag ist nicht mehr zeitgemäß, glaubt Jutarnji list:
„Dieser [über] 30 Jahre alte Vertrag galt nur für die USA (und die Nato) und Russland. ... In der Zwischenzeit hat aber nicht nur Peking, sondern haben auch Indien, Pakistan, Nordkorea und Iran strategische Kurz- und Mittelstreckenraketen entwickelt, die nukleare Sprengköpfe tragen können. Die Welt braucht offensichtlich einen neuen Vertrag für diese Raketen. Doch China möchte sich an keinerlei Gesprächen beteiligen - so wie wahrscheinlich auch die anderen Länder nicht, die über solche Waffen verfügen. Vor allem nicht Nordkorea und Iran. Also passt es auch Russland nicht, dass nur man selbst (und die USA) eingeschränkt werden, während andere, wie der Nachbar China, ihre Waffen entwickeln, ohne irgendwelchen Kontrollen zu unterliegen.“
Nun hat Putin freie Hand
Die USA haben das Ende des INF-Vertrags mit der Entwicklung einer neuen russischen Rakete begründet. Der Vorwurf ist gerechtfertigt, erklärt De Volkskrant, fährt dann allerdings fort:
„Es ist die Frage, ob die Kündigung des Abkommens die richtige Antwort ist. Jetzt, da der INF-Vertrag Geschichte ist, hat Präsident Putin freie Hand, um die Entwicklung neuer Waffen fortzusetzen. Genau darauf wollte er schon die ganze Zeit hinaus. ... Die Gefahr liegt vor allem darin, dass das ganze System der Rüstungskontrolle, das die USA und die Sowjetunion/Russland aufgebaut haben, nun endgültig zu Grabe getragen wird.“
Sechs Minuten sind verdammt kurz
Journalist Alexander Golz zeigt sich in Nowoje Wremja sehr besorgt:
„Washington hat alles getan, um die Fortsetzung des Vertrags zu verhindern. ... Es ist unwahrscheinlich, dass die Stationierung neuer amerikanischer Raketen in Europa die gleichen Antikriegsdemonstrationen hervorruft wie zu Beginn der 80er Jahre. Die Raketen können in Polen und den baltischen Ländern stationiert werden. ... In der Folge wird es vorbei sein mit der strategischen Überlegenheit Moskaus. Die USA werden wie in den 1980er Jahren in sechs bis acht Minuten Moskau und St. Petersburg, die Kommandozentralen, treffen können. Unmöglich, ein Signal des Frühwarnsystems (das wiederholt ein falscher Alarm war) in diesen Minuten noch einmal zu überprüfen.“
Wer setzt der Rivalität Grenzen?
Die Welt ist wieder mehr von Wettrüsten geprägt, meint De Volkskrant:
„Es besteht das Risiko, dass mit dem INF-Vertrag auch das gesamte Konzept der Rüstungskontrolle untergeht. Ausgerechnet in einer Zeit, in der die technologische Revolution auch auf militärischem Gebiet so schnell geht, dass ein Wettrüsten dem anderen folgt. ... Das schreit nach neuen Regeln und Absprachen, doch gerade die sind nicht populär in dieser Ära zunehmender Rivalität der Großmächte, die von Machthabern angeführt werden, die sich selbst und ihr Land an erste Stelle setzen. ... Total zurückfallen in die alte Zeit wird Europa nach dem Wegfall des INF-Vertrags nicht. Aber die neue Zeit hat gruselige Seiten. Denn eine Welt ohne INF-Vertrag ist eine Welt voller Rivalität aber ohne Bremse.“
Schrecken ohne Gleichgewicht
Sogar für gefährlicher als während des Kalten Krieges hält der Kurier die Lage:
„[Damals] hat das 'Gleichgewicht des Schreckens', wie das Drohszenario euphemistisch genannt wurde, das Äußerste verhindert. Beide Seiten wussten um das Potenzial des jeweils Anderen und darum, dass es einen Sieg ohne eigene Apokalypse nicht geben konnte ... [Heute] stehen die Atomwaffen immer unkontrollierter in der Welt. Die USA und Russland entziehen sich Vereinbarungen, zu nuklear ungebremsten Russen und Amerikanern kommen auch Chinesen. Die Raketen fliegen schneller als früher und sind kaum von einer Abwehr erfassbar. Die Aufrüstung reicht bald in den Weltraum ... Dafür wächst die Zahl irrationaler Staatenlenker, die zu einem Gleichgewicht des Schreckens, das letztlich eines der Vernunft war, nicht wirklich taugen.“
Europa hat es einfach geschehen lassen
Dass Europa das Aus des Vertrags einfach hinnimmt, kritisiert Kolumnist Franco Venturini in Corriere della Sera:
„Man kann verstehen, dass Amerika die Abrüstungsverträge der Vergangenheit für obsolet hält. … Man kann sogar verstehen, dass Putin die Vereinigten Staaten beschuldigt, den Vertrag zu verletzen und das nukleare Gleichgewicht mit ihren 'nur defensiven' Raketen in Rumänien und Polen zu beeinträchtigen. Aber was man nicht verstehen und nicht akzeptieren kann: Europa hat an vorderster Stelle von dem Raketenverbot profitiert und ist das erste potenzielle Opfer von dessen Aufhebung. Doch es hält beharrlich an seiner untergeordneten Rolle fest, schaut tatenlos zu und hat es tunlichst vermieden, das Thema auf Treffen mit Donald Trump und Wladimir Putin anzusprechen.“