Wen trifft das Ende des INF-Vertrags?
Die Kündigung des INF-Vertrags über den Verzicht auf landgestützte atomare Mittelstreckenraketen durch die USA und Russland hat Sorge vor einem neuen Wettrüsten ausgelöst. Beide Seiten werfen sich gegenseitig Vertragsbruch vor. Kommentatoren beschäftigen sich mit der Frage, wer unter der Entscheidung der beiden Großmächte am meisten leiden könnte.
Schwaches Europa steht vor großer Erschütterung
Europa ist in seiner aktuell fragilen Lage besonders gefährdet, erklärt Star:
„Der INF-Vertrag hatte vor allem das Ziel, für Europa die Gefahr eines nuklearen Kriegs zu beseitigen. Im Kalten Krieg zielten die Raketen, mit denen sich beide Seiten bedrohten, auf europäisches Gebiet. Der Vertrag drückte den Willen der Parteien aus, weder Europa noch sich gegenseitig über Europa zu bedrohen. ... Das heutige Europa ist feindlos, in sich selbst versunken und kann im Gleichgewicht zwischen den USA und Russland keine konstruktive Rolle spielen. Diese jetzige Entwicklung wird die europäischen Länder dazu zwingen, zwischen den USA oder Russland Position zu beziehen. Doch es sieht so aus, als ob die europäischen Länder bei diesem Thema keine gemeinsame Haltung zeigen und eine große Erschütterung erleben werden.“
Schlimmer als im Kalten Krieg
Vor schweren Folgen der Aufkündigung des INF-Vertrags warnt Dnevnik:
„In der Kündigung des INF-Vertrags seitens der USA liegt ein wenig Ironie, denn dieser Vertrag, gemeinsam mit dem Start-Abkommen (dem Vertrag zur Verringerung strategischer Waffen), war wohl der beste Teil des Nachlasses Ronald Reagans und seines Vize-Präsidenten und Nachfolgers, George Bush. Doch kann man sich mit dieser Ironie nicht trösten. Das Bündnis zwischen dem narzisstischen Ignoranten Trump und der neokonservativen Lumpenideologie ist das unheilvolle Zeichen eines neuen atomaren Wettrüstens. Dieses Wettrüsten ist nicht weniger gefährlich, sondern eher noch gefährlicher als das Wettrüsten zu Zeiten des Kalten Kriegs, das vor drei Jahrzehnten durch den INF-Vertrag und das Start-Abkommen (dessen Gültigkeit in zwei Jahren ausläuft) endete.“
Europa wird am meisten leiden
Vor allem Europa wird die Aufkündigung des INF-Abrüstungsvertrag schmerzlich zu spüren bekommen, führt Helsingin Sanomat aus:
„Der nächste Schritt wird sein, dass die USA überlegen, wo sie ihre eigenen Raketen stationieren. Es ist gut möglich, dass sich die Nato-Staaten nicht einigen und die USA bilaterale Verträge mit einzelnen Ländern abschließen, was die Spaltung des Bündnisses noch vertiefen wird. Die negativen Auswirkungen der Rüstungsspirale sowie Äußerungen der USA und Russlands, in denen über den Einsatz von Atomwaffen spekuliert wird, werden zunehmen. Europa ist der Kontinent, der die Welt auf der Grundlage von Verträgen aufbauen will. Wenn die Abkommen zur Begrenzung von Atomwaffen zerbrechen, wird Europa am meisten darunter leiden.“
Russland setzt falsche Prioritäten
Ein neues atomares Wettrüsten wird für das russische Wirtschafts- und Sozialsystem fatale Folgen haben, fürchtet Wedomosti:
„In Russland wird es zur Konzentration der wichtigsten finanziellen und materiellen Ressourcen im Verteidigungsbereich führen und den technologischen Fortschritt in den zivilen Wirtschaftsbranchen erschweren. Die globalen Folgen einer solchen Umorientierung sind dabei noch gar nicht bedacht. Die Demontage des internationalen Sicherheitssystems wird es dem Kreml zudem erlauben, wieder einmal die Karte der 'belagerten Festung' auszuspielen: Zusammenrücken angesichts einer Gefahr von außen. Letztlich werden die Kürzungen der sozialen Mittel mit der These 'Raketen statt Butter' begründet.“
Reagans Rezept ist immer noch tauglich
Nur durch militärische Überlegenheit kann der Westen Russland Einhalt gebieten, ist Deník überzeugt:
„Die Hoffnung, eine neue Runde des atomaren Wettrüstens zu stoppen, ist nicht groß. Was am meisten Furcht einflößt, ist das unverantwortliche Verhalten des Kreml, der vor fünf Jahren mit der Besetzung der ukrainischen Krim begann und seither in der Ost-Ukraine einen Krieg führt. Der einzige Weg, dem Druck Russlands zu widerstehen, ist, ein technologisches und militärisches Übergewicht zu halten, verstärkt an einer Raketenabwehr zu arbeiten, eine deutliche Übermacht im konventionellen Bereich zu sichern und aggressives Verhalten nicht unbeantwortet zu lassen. Dann wird der Kreml bereit sein, einen neuen INF-Vertrag zu unterzeichnen. Das Rezept Ronald Reagans ist immer noch tauglich.“
Europa erneut Geisel der Großmächte
Europa ist vom Ende des INF-Vertrags am meisten betroffen und sollte sich dagegen wehren, findet Pravda:
„Es ist sehr wahrscheinlich, dass die USA auf ihren europäischen Basen Mittelstreckenraketen stationieren, womit es zu einem neuen Rüstungswettlauf käme. Bei Trumps Haltung zur kollektiven Verteidigung wäre es aber nicht überraschend, wenn Washington seine Soldaten aus Europa abzöge und dort keine Raketen aufstellte - dann wären die Europäer Russland ausgeliefert. ... Da die Hoffnung zuletzt stirbt, sollte Brüssel an Washington appellieren, den INF-Vertrag nicht aufzukündigen, sondern sich zu bemühen, ihn zu verbessern.“
Endlich wird Moskau die Stirn geboten
Nun könnte Washington den Kreml endlich zur Räson bringen, lobt hingegen The Daily Telegraph den Schritt der USA:
„Kritiker von Präsident Donald Trump werden dessen Entscheidung als Beweis dafür anführen, dass er ein Einzelgänger ist, der ein neues Wettrüsten starten will. Doch diese Entscheidung hat sich schon lange abgezeichnet, und dafür ist Russland verantwortlich zu machen. ... Ein Regime, das die Ukraine in zwei Teile gespalten, die Krim an sich gerissen und Mordversuche auf britischem Staatsgebiet ausgeübt hat, wird nicht vor atomarer Erpressung zurückschrecken. Hoffentlich wird dieser Rückzug dabei helfen, dass Moskau erkennt, welch gefährliches Spiel es spielt und es zum Umdenken bewegen. Russland reagiert in der Regel auf ein Zeichen der Stärke.“
Abkommen passt nicht in die heutige Zeit
Warum Trump mit der Vertragsaufkündigung die außenpolitischen Prioritäten in die richtige Richtung verschiebt, erklärt Andris Sprūds, Leiter des Thinktanks LIIA (Latvian Institute of International Affairs), auf Tvnet:
„Die Vereinbarung zwischen den USA und Russland aus der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, die ein Grundstein für das Ende des Kalten Kriegs war, erfüllt schon lange nicht mehr die gedachte Funktion. ... Russland hat seit Jahren den Vertrag verletzt. ... Dies können wir nicht ignorieren. Beim Kräftemessen zwischen den USA und Russland sind Raketen nicht das hauptsächliche Risiko, mit dem man globale Prozesse beeinflussen kann. In Trumps Interesse ist es auch, den wirtschaftlichen und strategischen Einfluss seines Konkurrenten China in der Pazifikregion, in der sich auch die USA befinden, zu verringern.“
Peking nicht aus den Augen lassen
Wenn Trump darauf setzt, dass weltweit nicht genug Geld für ein neues Wettrüsten vorhanden ist, dann verkalkuliert er sich, meint Večernji list:
„Warum hat Trump angekündigt, sich aus dem Abkommen zurückzuziehen? In den USA wird angenommen, Russland sei wirtschaftlich nicht für ein neues Wettrüsten bereit, so wie in den 1980ern die Sowjetunion nicht dafür bereit war und gezwungen war, den INF-Vertrag zu unterzeichnen. Damals drohte Reagan auch mit einem Wettrüsten im Weltall. Nun könnte ein Wettlauf um die Bewaffnung von Satelliten entfacht werden, in den auch China mit einbezogen werden würde. Peking hat bisher negativ auf Trumps Aufrufe zu einer Einigung zum Aufrüstungsstopp reagiert und betonte, dies sei eine Sache zwischen den USA und Russland.“