9/11: Wie geht man heute mit dem Terror um?
Nicht nur in den USA haben am Mittwoch Politik, Medien und Gesellschaft an die Terroranschläge vom 11. September 2001 erinnert. Bei den verheerenden Angriffen mit insgesamt vier Flugzeugen kamen damals fast 3.000 Menschen ums Leben. Kommentatoren fragen sich, wie der Westen heute angesichts der Bedrohung durch dschihadistischen Terror dasteht.
Die Gefahr durch Al-Qaida ist nicht gebannt
Heute ist Al-Qaida wieder gefährlicher als die IS-Miliz, warnt Der Tagesspiegel:
„Die Anhänger des 2011 in Pakistan von US-Elitesoldaten getöteten Osama bin Laden unterhalten stabile Bündnisse mit regionalen Terrorgruppen. ... Die Taliban haben Al-Qaida nie fallen gelassen, obwohl bin Laden mit 9/11 die Amerikaner zur Invasion in Afghanistan provozierte. Der IS hingegen agiert isoliert und kämpft gegen die anderen militanten Islamisten. Sollten die Taliban, was zu befürchten ist, in den nächsten Jahren Afghanistan komplett zurückerobern, werden sie sich am IS genauso rächen wie an der afghanischen Regierung. Und Al-Qaida hätte, wie 2001, wieder ein sicheres Refugium in einem Gottesstaat. Der Westen muss den Einsatz in Afghanistan fortsetzen und darf die globale Gefahr, die von Al-Qaida ausgeht, nicht unterschätzen. '9/11 reloaded' droht weiter.“
Ein Business, das Angst verbreitet
Der 11. September markiert rückblickend den Beginn einer neuen Epoche des Terrorismus, erklärt Iswestija:
„In ihr ist Terrorismus überhaupt nicht mehr ideologisch, obwohl er sich sehr bemüht, das Vorhandensein von Überzeugungen zu imitieren. ... Stattdessen ist er hochtechnologisch und darauf ausgerichtet, sich in Medienereignisse zu verwandeln. Der Terrorismus hat sich gewandelt und organisiert sich nun nach den Gesetzen des Business. … Terrorismus ist nichts anderes mehr als die dunkle Seite der 'Soft Power', die von den 'Verbrauchern' Angst verlangt statt Liebe und Treue. … Der moderne Terrorismus produziert Fake-Religiosität und imitierten Fanatismus. Die Extremisten müssen eben irgendwie ihr Hauptziel tarnen: die Erzielung von Gewinn.“
Integration: Frankreich auf dem Holzweg
Der Umgang Frankreichs mit seiner muslimischen Bevölkerung beschäftigt den Politologen Driss Ghali. Er fordert in Causeur eine Korrektur:
„Wir sollten zwei parallele Ziele verfolgen: es den Islamisten verwehren, die fromme Mehrheit an sich zu reißen [die gemäß einer Studie des Thinktank Institut Montaigne von 2016 nicht radikal, aber auch nicht vollständig säkularisiert ist], und die muslimische Avantgarde darauf vorbereiten, ihre Rolle auszufüllen. Seit 2001 tun wir das Gegenteil dessen, was der gesunde Menschenverstand verlangt. Wir haben die fromme Mehrheit den Islamisten überlassen und die muslimische Avantgarde entmutigt, indem wir ihr systematisch Fußballspieler, Komiker und Rapper vorgezogen haben. Doch nach jedem Attentat glänzen diese öffentlichen Unterhalter mit ihrem Schweigen, wenn sie uns nicht gar schlicht und einfach den Rücken zukehren.“
Westen kann große Herausforderungen meistern
Politiken findet, dass der Westen die Bewährungsprobe seit den Anschlägen gemeistert hat:
„Trotz der Bedenken, dass die Überwachung überhand nehmen könnte, ist es dem Westen gelungen, an einer offenen, vertrauensvollen Gesellschaft festzuhalten. Flugreisen sind beschwerlicher geworden, aber der Alltag ist für die meisten im Wesentlichen unverändert. Der Krieg gegen den Terror wird wohl nie enden, aber er ist auch nicht zum alles dominierenden Faktor geworden, wie man es unmittelbar nach 9/11 geglaubt hat. Al-Qaida hat verloren, Osama bin-Laden wurde getötet. Und der Nachfolger, der Islamische Staat, ist gebrochen. ... Es ist wichtig, sich das bewusst zu machen, wenn wir nun mit anderen Problemen konfrontiert sind: China, Klima und Populismus. Unsere Gesellschaft ist robust und kann mit großen Herausforderungen fertig werden.“
Der eigentliche Kampf ist noch nicht gewonnen
Islamismus-Experte Lorenzo Vidino hingegen urteilt in La Stampa, dass die dschihadistische Bedrohung in ihrer ganzen Schärfe bestehen bleibt:
„Das Problem ist, dass Al-Qaida, IS und die Vielzahl von Gruppen in ihrem Umkreis schlichtweg nur vorübergehende Ausprägungen eines ideologischen Phänomens sind. … Taktische Erfolge (militärische Operationen gegen dschihadistische Gruppen, Verhaftungen, vereitelte Angriffe) sind von grundlegender Bedeutung. Doch sie bleiben Pyrrhussiege, solange man nicht den eigentlichen Kampf gewinnt, solange es nämlich nicht gelingt, die ideologische Anziehungskraft des Dschihadismus zu brechen und die komplexen politischen, sozialen, bildungspolitischen, theologischen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen, die ihn in den Augen seiner vielen Anhänger so attraktiv machen.“
Denkfehler in der CIA-Blase
Gazeta Wyborcza wirft die Frage nach strukturellen Ursachen des Versagens der US-Geheimdienste auf:
„Warum hat die CIA, die ein Budget von mehreren Milliarden Dollar hat, sowie Zugang zu modernster Technologie, und die Tausende von Spezialisten beschäftigt, damals nicht die größte Bedrohung für das Land seit dem Zweiten Weltkrieg erkannt? ... Ist vielleicht die Beschäftigungspolitik der CIA schuld? Interessanterweise bestehen nur wenige Frauen und Vertreter von Minderheiten die Aufnahmeprüfungen bei der Agentur. ... Eine Gruppe sich ähnlicher Personen sieht ein komplexes Problem auf die gleiche Weise. So werden Fehler in Gedankengängen übersehen, die von jemandem außerhalb der eigenen Blase entdeckt worden wären.“