Straßburg rügt Italiens lebenslange Haftstrafen
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Rom ermahnt, das Gesetz zu lebenslanger Haft zu reformieren. Bisher können Häftlinge, die wegen besonders schwerer Verbrechen lebenslange Strafen erhielten, nur dann vorzeitig entlassen werden, wenn sie mit der Justiz kooperieren. Diese Praxis verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, so das Urteil. Ist es mit Italiens Realität vereinbar?
Richter kennen die Mafia nicht
Warum das Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte in Italien wohl ohne Folgen bleiben wird, erläutert der Mafia-Experte Francesco La Licata in La Stampa:
„Das Urteil ist das Ergebnis einer Rechtskultur, die von unserer Geschichte weit entfernt ist. Die Straßburger Richter kennen die kriminellen Mafiaorganisationen nicht, die schon vor der staatlichen Einheit Italiens mindestens ein Drittel des Südens des Landes unter Kontrolle hatten. Die Möglichkeit der Läuterung des Häftlings ist bei einem unbeirrbaren Mafioso (also einem, der nicht mit der Justiz kollaboriert) schlicht nicht denkbar. Wenn er nie Reue gezeigt hat, bleibt er auf Lebenszeit an den Blutschwur gebunden, den er beim Eintritt in die 'Familie' abgelegt hat.“
Alte Regeln sind überholt
Lebenslange Strafen und Isolationshaft wurden in Italien zu Beginn der 1990er Jahre eingeführt – als vorübergehende Antwort auf Mafia-Morde an Juristen und Politikern. Beide Massnahmen wurden mit der Zeit dauerhaft. Höchste Zeit, das zu ändern, lobt hingegen Soziologe Luigi Manconi in La Repubblica das Straßburger Urteil:
„Die berechtigten Bedenken derjenigen, die fürchten, dass Mafiabosse von einer eventuellen Abschaffung der lebenslangen Inhaftierung profitieren könnten, müssen ernst genommen werden, aber die Antwort sollte eine andere sein: die Überprüfung, ob sie weiter eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen. ... Es geht also darum, von einer automatischen Regel zu analytischen Urteilen zu gelangen, die niemanden präventiv - und somit endgültig - von der Möglichkeit der Reue ausschließen. … Dies würde die rechtliche und moralische Überlegenheit der Rechtsstaatlichkeit gegenüber ihren Feinden beweisen.“