Worüber Orbán nicht sprach
Ungarns Premier Viktor Orbán hat in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation die Erfolge seiner Politik gepriesen. Außerdem griff er den US-Milliardär George Soros und die "erschöpften Brüsseler Eliten" an. Ungarische Medien blicken kritisch auf die Aussagen des Regierungschefs und attestieren ihr Lücken.
Premier lebt in einer Parallelwelt
Népszava wirft Orbán Realitätsferne vor:
„Die Prioritäten des Premiers scheinen weit entfernt davon zu sein, was die Ungarn für wichtig halten. Wenn das sogenannte Volk eines Tages das vergangene Jahr auswerten wird, wird es bestimmt um das Thema Abwanderung gehen, um das Gesundheitssystem, dessen Leistungsfähigkeit schon allein im regionalen Vergleich eine Schande ist, um das Bildungssystem, das Ungarns Rückstand zementiert und um die drei bis vier Millionen Menschen, die in hoffnungsloser Armut leben. ... Diesen Problemen schenkte der Regierungschef nicht viel Aufmerksamkeit. Die Themen, über die er sprach, stehen auf unserer Liste nicht unter den ersten zehn, ja nicht einmal unter den ersten 100 wichtigsten Problemen.“
Sorgenfalten überspielt
Der Regierungschef zeigte sich selbstbewusst, inzwischen hat er aber allen Grund, sich Sorgen zu machen, glaubt Magyar Hang:
„Das Bild, das Orbán in seiner Rede skizzierte, war irritierend rosig. Mindestens die Hälfte der ungarischen Bevölkerung erlebt die eigene Lage und die Lage des Landes sicherlich längst nicht so positiv. ... Als er über die Herausforderungen der näheren Zukunft sprach, näherte er sich spürbar der Realität an. ... Es kann sein, dass Viktor Orbán sich ernsthaft Sorgen macht, dass die europäische Wirtschaft an Schwung verliert und die günstigen Bedingungen, die ihm bisher in die Hände spielten, nicht mehr gegeben sind. ... Der zuversichtliche Ministerpräsident hat sich selbst zum Sieger der Vergangenheit erklärt, aber die Unsicherheit der Zukunft beunruhigt ihn zweifellos.“
Entscheidungshilfe für die EVP
Nach dieser Rede wird man die Illusion aufgeben müssen, Orbán habe sich in letzter Zeit gemäßigt, kommentiert die Süddeutsche Zeitung:
„Orbán ist ganz der Alte. Er appelliert an großungarische Gefühle, er attackiert den angeblichen Staatsfeind George Soros und er mokiert sich über die 'Intellektuellen' in Brüssel, die schlicht nicht in der Lage seien, den Erfolg seiner Regierungsarbeit zu würdigen. Freilich kann man eine solche Ansprache als Getöse in eigener Sache abtun. Zusammen mit Orbáns jüngsten Attacken auf die akademische Freiheit und auf die Unabhängigkeit der Justiz aber ergibt sich ein klareres Bild. Hoffentlich macht es der EVP, die sich bisher nicht zu einem Urteil darüber durchringen kann, ob Fidesz weiter zu ihr gehören soll, die Entscheidung ein bisschen leichter.“
Nationale Souveränität ist wieder hergestellt
Voll des Lobes für Orbáns Politik ist die regierungsnahe Magyar Nemzet:
„Mit der Zustimmung von zwei Dritteln der Gesellschaft im Rücken hat das Fidesz-KDNP-Bündnis zwar nicht risikolose, aber wirksame Maßnahmen ergriffen. Die Regierung hat eine Sondersteuer auf Geldinstitute erhoben, sie hat multinationale Firmen beim Schultern der öffentlichen Lasten einbezogen. ... Nachdem sich die Wirtschaft konsolidiert hat, kaufte sie die öffentlichen Versorgungsbetriebe, die die Regierung aus [sozialdemokratischer] MSZP und [liberaler] SZDSZ verkauft hatte, aus dem Privatbesitz zurück. Die allmähliche Wiederherstellung und Stärkung der nationalen Souveränität diente als Grundlage für das Wirtschaftswachstum, für die allmähliche Beseitigung der Arbeitslosigkeit und für die Förderung der Familien.“