Wird die Corona-Krise zur Bildungskrise?
In vielen Ländern Europas werden die Schüler seit einigen Wochen online zuhause unterrichtet, weil die Schulen zur Pandemiebekämpfung geschlossen sind. Dabei haben nicht alle Kinder einen eigenen Computer, manche haben nicht einmal Internet. Europäische Pressestimmen beklagen die sich dadurch verschärfende soziale Ungleichheit, mahnen aber auch zur Vorsicht bei der Wiedereröffnung der Schulen.
Schritte behutsam planen
Frankreich will seine Schulen ab dem 11. Mai schrittweise wieder öffnen. Zunächst sollen insbesondere Schüler zurückkehren, die beim Lernen von zu Hause aus benachteiligt sind. Das erfordert eine gründliche Absprache mit allen Beteiligten, mahnt Libération:
„Die Lehrkräfte haben nur eine Angst, nämlich die, sich mit den vorhandenen Mitteln durchschlagen zu müssen. ... Und die Familien haben Angst, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Beiden Gruppen muss Gehör geschenkt werden. Die Situation erlaubt es nicht, Risiken einzugehen. Im aktuellen Stadium der Epidemie musste ein Ziel gesetzt, ein Hoffnungsschimmer aufgezeigt werden. Das hat Emmanuel Macron getan. Nun muss es konkretisiert werden - nicht nur in den Fernsehstudios.“
Bildung muss Priorität haben
Um das Schuljahr zu einem guten Ende zu bringen, darf es nur wenige Tabus geben, fordert der Chefredakteur der Tageszeitung Die Welt, Ulf Poschardt:
„Lehrpläne müssen unter Umständen in den bislang terminierten Sommerferien nachgeholt werden, und gerade in Brennpunktschulen muss das Worst-Case-Szenario einer komplett ausgefallenen Beschulung angenommen werden. Die schwächsten Kinder, wie vom Lehrerverband vorgeschlagen, wiederholen zu lassen, führt in die falsche Richtung. Egal, wie bitter die wirtschaftlichen Kerben dieser Covid-19-Katastrophe sein werden, der Anspruch auf eine umfassende Bildung darf nicht zurückstehen. ... Covid-19 ist ein Rendezvous mit der Komplexität der Gegenwart. Um sie zu verstehen, braucht es möglichst gebildete Gesellschaftsmitglieder. ... Deswegen gehört bei allen Exit-Szenarien das Thema Schulen und Kitas in die Top-drei-Box.“
Die Utopie der digitalen Pädagogik
Die Professorin für Politik der Universität Vilnius, Natalija Arlauskaitė, beschreibt auf Lrt, wie das seit drei Wochen in Litauen stattfindende Online-Lernen bürgerliche Utopien platzen lässt:
„Vor allem ist klar geworden, dass sowohl das Unterrichten als auch das Studieren gute Bedingungen, gute Technik und gute Internetverbindungen braucht. Bedingungen umfasst Vieles, zum Beispiel, eine eigene Ecke zum Arbeiten, immer dasselbe 'eigene Zimmer', wie Virginia Woolf schreibt, ohne das nichts zustande kommt, und das nicht selbstverständlich ist, weder für die Dozenten noch für die Studenten. ... Wir haben bald bemerkt (und gut, dass wir es bemerkt haben), dass die Utopie der digitalen Pädagogik, die zu einer Utopie der Gleichheit werden sollte, einer sehr bourgeoisen Vorstellung entstammt, die die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit nicht wahrnimmt.“
Online-Unterricht macht Arme ärmer
In Spanien findet der Unterricht seit fünf Wochen online statt. Dass das letzte bis Juni gehende Trimester dennoch bewertet wird, verschärft die Klassenunterschiede, beklagt die Vorsitzende der spanischen Schülergewerkschaft, Coral Latorre, in Público:
„Das Ministerium weigert sich, die für alle offensichtliche Tatsache anzuerkennen, dass das Schuljahr bereits beendet ist. ... Der Online-Unterricht schließt einen Großteil der einkommensschwachen Familien aus, somit werden Lehrinhalte bewertet, die nicht gleichberechtigt erteilt wurden. Wer das ignoriert, verschließt die Augen vor der wachsenden Kluft im Bildungssystem und hält an einem Modell fest, das die öffentliche Schulbildung zerstört und die Abbrecherquoten im europäischen Vergleich nach ganz oben getrieben hat.“
Bildungspolitiker sind gleichgültig
Viele junge Menschen in Italien bleiben auf der Strecke, mahnt auch der Historiker Ernesto Galli della Loggia in Corriere della Sera:
„In der allgemeinen Selbstgefälligkeit für den Fernunterricht über das Netz ist eine dramatische Tatsache im Schatten geblieben, dass nämlich mehr als ein Drittel der Schülerinnen und Schüler von einem solchen Unterricht nicht profitieren können, weil ihnen ein Computer fehlt oder weil sie zu Hause keinen Internetanschluss haben. Es versteht sich von selbst, dass zu diesem Drittel die Kinder der am stärksten benachteiligten Familien, nämlich der in Süditalien lebenden Familien und der jungen Einwanderer gehören. ... All dies offenkundig unter äußerster Gleichgültigkeit des Bildungsministeriums, das sich nicht bewusst macht, dass dies die Kluft zwischen den sozialen Klassen vertieft.“
Enormer Aufholbedarf in puncto Gerechtigkeit
Die Krise macht deutlich, unter welch prekären Bedingungen Kinder teils leben, konstatiert Die Presse:
„Viele Kinder an sogenannten Brennpunktschulen, meist mit Migrationshintergrund, sind seit Wochen nicht für Lehrer erreichbar. Kinderschutz-Einrichtungen schlagen Alarm, dass Kinder in Gewaltfamilien in Gefahr seien. Oder wenn sich zeigt, wie sehr Kinder armutsbetroffener Eltern, die womöglich kaum beim Lernen helfen können, abgehängt werden. Hier drängt die Krise zum Handeln, mit dem Effekt, dass nun mit Hochdruck daran gearbeitet wird, alle Kinder zu erreichen, ihnen Anlaufstellen zu bieten. Oder dass Kinder aus armen Familien technisch so ausgestattet werden, dass sie an digitalen Lernformen teilnehmen können.“
Druck macht Innovationen möglich
Die Ergebnisse, die das Bildungssystem nun unter Druck liefert, zeigen, wie überflüssig viele der normalerweise geführten Reformdebatten sind, resümiert Publizist Pál Szombathy in Új Szó:
„Die Gesellschaft lernt sich selbst neu kennen. Es wird sich zeigen, wie diszipliniert sie ist und ob sie das Jammern und die unwichtigen Debatten auch mal beiseitelassen kann. Und es wird sich zeigen, wie mobil und innovativ die Gesellschaft ist. Der plötzlich entstandene Zwang des Fernunterrichts ist ein gutes Beispiel. Man musste das Problem innerhalb weniger Tagen lösen. Und so funktioniert, wenn auch zögerlich, jetzt etwas, was in Friedenszeiten nicht mal nach langjähriger Vorbereitung und Tausenden von Diskussionen geklappt hätte.“
Sogar Heiligtümer werden angetastet
Wie schnell alte Regeln und Systeme auch im Schulwesen plötzlich ihre Gültigkeit verlieren, illustriert Le Monde:
„Wenn man in ein paar Jahren all die Veränderungen aufzählen wird, die die Covid-19-Pandemie angestoßen oder beschleunigt hat, wird das französische Abitur, ein Nationalmonument par excellence, wahrscheinlich auch auf der Liste auftauchen. Am 3. April hat Bildungsminister Jean-Michel-Blanquer angekündigt, dass die traditionellen Examen am Jahresende gestrichen werden und stattdessen die Noten zählen, die über das Schuljahr verteilt erzielt wurden. In normalen Zeiten wäre das eine Revolution gewesen. Weder die Besatzung durch Nazi-Deutschland noch die Aufstände im Mai 1968 haben zur kompletten Streichung der Examen geführt.“
Pauken kann man online, erwachsen werden nicht
Die Isolation trifft Jugendliche besonders hart, erklärt der Psychologe und Pädagoge Allan Guggenbühl in der Neuen Zürcher Zeitung:
„Sie sehen in der Schule vor allem einen Raum, wo man gleichaltrige Kollegen und Kolleginnen trifft und Eigenständigkeit probt. Man kann mit den Mitschülern News austauschen, klatschen, flirten, blödeln, über Lehrpersonen und Eltern lästern oder einfach zusammen sein. ... Unter dem Radar der Erwachsenen werden Gegenwelten inszeniert, die für die eigene Identitätsentwicklung wichtig sind. ... Diese Bedeutung der Schule verhilft vielen Jugendlichen zu emotionaler Stabilität. ... Online-Lernen und -Kontakte sind Überbrückungshilfen, doch sie genügen nicht, um diese schwierige Zeit durchzustehen. Jugendliche müssen auch in ihrer Psycho-Emotionalität abgeholt werden.“
Kinder sind keine Privatsache
Die Kinderrechtsbeauftragte der SOS-Kinderdörfer Birgit Schatz fordert in Der Standard staatliche Hilfen für berufstätige Eltern mit Kindern:
„Kinder und ihre Eltern sind in ihrer spezifischen Sondersituation keine Zielgruppe der Hilfsmaßnahmen der Regierung. Schon gar nicht armutsbetroffene Familien mit nochmals schwierigeren Herausforderungen. ... Etwas mehr Hilfe wäre angebracht. ... Etwa die Einführung einer Betreuungskarenz. Eltern betreuen mit der Zustimmung ihrer Arbeitgeber die Kinder zu Hause, und der Staat finanziert das mit Beihilfen in der Höhe des Arbeitslosengeldes. Der Arbeitgeber ist von den Lohnkosten entlastet, das existenzsichernde Einkommen der Eltern ist garantiert. … Kinder und ihre Versorgung und Betreuung sind nicht nur Privatsache!“
Lehrer brauchen Sommerferien mehr denn je
Unter anderem in Finnland wird diskutiert, die Sommerferien zu kürzen, um die Schulschließungen teilweise zu kompensieren. Davon hält Helsingin Sanomat gar nichts:
„Die Helden inmitten der Coronakrise sind jene, die mit ihrer Arbeit die Strukturen der Gesellschaft aufrecht- und Menschen am Leben erhalten. Zum Rückgrat der Gesellschaft zählen auch die Lehrer und Kindergärtner. … Die Lehrer sind gewissenhaft und versuchen, alles zu geben. Das Risiko ist aber, dass sie nun ermüden. … Bildungsministerin Li Andersson hat gesagt, dass die Lehrer nachsichtig mit sich selbst sein sollen, falls nicht alle Ziele des Lehrplans erreicht werden können. Diese Botschaft muss in den kommenden Wochen präzisiert werden, denn auf eigene Faust dürfen die Lehrer den Lehrplan nicht kürzen. Mit einer Verkürzung der Sommerferien würde man ihnen einen Bärendienst erweisen.“