Nach den großen Ferien: Ringen um den Schulalltag
In fast allen europäischen Ländern hat die Schule in den vergangenen Wochen wieder begonnen. Überall wurde heftig gestritten, ob und wie trotz Pandemie ein möglichst normaler Unterrichtsalltag möglich ist. Europas Kommentarspalten spiegeln ein alles andere als ungetrübtes Ferienende.
Ein Paradoxon der Pandemie
Am kommenden Montag kehren die Kinder in Italien das erste Mal nach dem Lockdown wieder in die Schule zurück. Die Angst überwiegt gegenüber der Freude, beobachtet Corriere della Sera:
„Ab Montag wird das Schulpersonal an der Front stehen. Mit ihnen werden acht Millionen Schülerinnen und Schüler, auf denen das Stigma der asyptomatischen Infektion lastet, einem nicht unbedingt leichteren psychischen Stress ausgesetzt sein, da sie wissen, dass sie das Virus auf Eltern und Großeltern übertragen können. … Während wir bisher in der Lage waren, den Sicherheitsabstand zu wahren, wird dies ab Montag viel schwieriger, wenn nicht gar unmöglich sein. … Ein weiteres Paradoxon der Pandemie: Die Schule muss wieder geöffnet werden, weil sie das Bindegewebe der Gesellschaft ist, aber gerade weil sie das Bindegewebe der Gesellschaft ist, haben wir so große Angst, sie wieder zu öffnen.“
Partys, aber nicht die Einschulung feiern?
Für den Tages-Anzeiger ist nicht nachvollziehbar, warum Eltern ihre Kinder in manchen Schweizer Schulen und Kindergärten nicht zum ersten Unterrichtstag begleiten dürfen:
„In Clubs und anderswo sind Menschenmengen von bis zu 1000 Personen erlaubt. Und ausgerechnet bei Kindergärtlern und Erstklässlern schlägt die im internationalen Vergleich relativ grosszügige Schweizer Corona-Regelung mancherorts in hartherzige Überängstlichkeit um? Das ist auch deshalb verfehlt, weil sich problemlos Kompromisse finden liessen, die das Risiko minimieren: Nur ein Elternteil begleitet das Kind, es herrscht für die Erwachsenen Maskenpflicht, die Fenster bleiben offen, um die Konzentration an potenziell infektiösen Aerosolen zu verringern.“
Jetzt zum mutigen Vorbild werden
Deník hält eine Verschärfung der Maßnahmen auch mit Blick auf das neue Schuljahr für kontraproduktiv:
„Die Zahl der Infizierten steigt, aber nicht die Zahl der Krankenhausaufenthalte und schon gar nicht die Zahl der schwerwiegenden Fälle. Die meisten Menschen mit einem positiven Test haben leichte oder gar keine Symptome. Als wir im März die drastischsten Beschränkungen in Europa einführten, wurden wir kritisiert und verspottet. Mit Verzögerung übernahmen jedoch die anderen Länder unsere Vorschriften. Jetzt könnten wir ein Vorbild für Mut sein. Zudem: Die Menschen akzeptierten im März diszipliniert die Einschränkung von Freiheiten, weil sie glaubten, dass dies im Sinne des Gesundheitsschutzes angemessen war. Unnötige Verbote jedoch provozieren nur alle und erzeugen Proteste.“
Angst vor dem Kahlschlag
Einen von Schwierigkeiten überschatteten Schulbeginn in Finnland beschreibt Lapin Kansa:
„Die Finanzprobleme der Gemeinden wuchsen schon vor Corona und viele Gemeinden erwägen jetzt eine Reform des Schulnetzes. Und die Schließung von Schulen ist nicht der einzige Weg, wie die Gemeinden ihre Finanzen in den Griff bekommen wollen. Laut Lehrergewerkschaft planen nicht weniger als 49 Gemeinden, Lehrern zu kündigen oder sie in Kurzarbeit zu schicken. ... Zusätzlich zu den ökonomischen Problemen überschattet Corona den Schulbesuch. Man hat das Gefühl, dass es momentan außergewöhnlich viele große Probleme gibt.“
Normalbetrieb ist verantwortungslos
Der Deutschlandfunk ist entsetzt, dass einige Politiker einen Schulbetrieb wie vor Corona ins Auge fassen:
„Das gesamte Corona-Management, das hierzulande bisher als vorbildlich galt, könnte innerhalb weniger Wochen aufs Spiel gesetzt werden. ... Völlig zu Recht sind viele Lehrer und Eltern verunsichert und verärgert. Das Risiko, das wir in diesen Tagen des Schulbeginns eingehen, ist nicht kalkulierbar. ... [E]s wäre dringend geraten, die Regeln aus der Vor-Ferienzeit beizubehalten: Halbe Klassenverbände im Präsenz-Unterricht, die andere Hälfte im Online-Betrieb. Das könnte das Infektionsrisiko mindern, auch für die Lehrerinnen und Lehrer, über deren Ansteckungsgefahr allzu wenig gesprochen wird.“
Fernunterricht kein Ersatz
Trotz aller Probleme und Risiken ist eine volle Öffnung der Schulen im Herbst die beste vieler schlechter Optionen, widerspricht die The Irish Times:
„Viele Lehrer und einige wenige Schüler haben gesundheitliche Probleme. Nur jene, die ganz besonders gefährdet sind, werden von daheim arbeiten dürfen. Doch die Schulen geschlossen zu halten, birgt ebenfalls erhebliche Risiken. Trotz aller heldenhaften Bemühungen kann Fernunterricht niemals die Schule ersetzen. Die psychische Gesundheit junger Menschen wird leiden, wenn die Schulen geschlossen bleiben - ganz zu schweigen von ihrer Bildung. Der Kollaps der Wirtschaft wird dazu führen, dass die Ärmsten noch stärker benachteiligt sein werden. Angesichts dessen bleibt die Wiederöffnung der Schulen die am wenigsten schlechte Option.“
Lockdown-Generation verhindern
In einem Interview mit der Wirtschaftszeitung L'Echo hat Hans Kluge, Europa-Verantwortlicher der WHO, seine Sorge um die Jugend angesichts der Corona-Krise betont. Wir müssen sie retten, fordert das Blatt nun:
„Der Ablauf ist mit dem der Langzeitarbeitslosigkeit vergleichbar: zwei Jahre, danach wird die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt als schwierig erachtet. Durch dieses alarmierende Prisma hindurch sollte das neue Schuljahr betrachtet werden. Optimale Unterrichtsorganisation, Betreuung der Studierenden, aber auch Ausbau der Lernangebote (vor allem online), Einbindung ins Berufsleben - wir müssen der Jugend in Not neue Kraft verleihen. ... Eine Priorität, um ihren Verdruss gegenüber der gesundheitlichen Bedrohung abzuwenden. Und um zu verhindern, dass unsere Jugend auf eine 'Lockdown-Generation' reduziert wird.“