Russlands Corona-Impfstoff: Übereilte Zulassung?
Russland hat als erstes Land einen Impfstoff gegen das Coronavirus zur allgemeinen Anwendung zugelassen. Sputnik V sei effektiv und sorge für eine beständige Immunität, sagte Kremlchef Putin am Dienstag. Wissenschaftliche Daten wurden aber noch nicht veröffentlicht. Journalisten warnen nicht nur vor gesundheitlichen Risiken.
Eher Gefahr als Rettung
Der Impfstoff trägt Risiken auf verschiedenen Ebenen mit sich, erläutert Jornal de Notícias:
„Nicht umsonst haben einige Experten Warnungen davor ausgesprochen, den Impfstoff als Rettung zu betrachten. Denn die Ergebnisse dieser ersten Version können wie bei HIV mittelmäßig sein. Außerdem hat Putins Zauberstab andere Missbildungen: Der Impfstoff kann ein falsches Gefühl des Trostes erzeugen und die Vorsicht potenzieller Patienten senken. Und wenn er sich als unwirksam herausstellt, trägt das dazu bei, die Zahl der Wissenschaftsleugner zu vergrößern. Das russische Wunder könnte schließlich zur monumentalen Katastrophe werden.“
Impfgegnern keine Munition liefern
Eine vorschnelle Zulassung könnte die Impfgegner auf den Plan rufen, warnt The Irish Times:
„Etablierte Impfstoffe sind bemerkenswert sicher, und Behauptungen, die sie mit Entwicklungsstörungen wie Autismus in Verbindung bringen, sind nachweislich falsch. Dennoch glaubt eine beunruhigend große Zahl von Menschen an Falschmeldungen zum Thema Impfen. Daher ist es wichtig, dass Studien die Sicherheit eines Serums in einer Weise bestätigen, die die breite Masse der Bevölkerung überzeugt. ... Eine Massenimpfung basierend auf Studien mit einigen Tausend Patienten, wie in Russland vorgeschlagen, wäre leichtsinnig.“
Russische Forscher sind widrige Umstände gewohnt
Die Ankündigung des Impfstoffs sollte durchaus ernstgenommen werden, meint hingegen Spotmedia:
„Russland hat gute Forscher, die es gewohnt sind, unter harten Bedingungen zu arbeiten. Man denke nur an die Wissenschaftler aus der Sowjetunion, die entscheidend zur Entwicklung des Impfstoffs gegen Kinderlähmung beigetragen haben. 1959 haben Dr. Michael Tschumakow und seine Frau Marina ihre eigenen zwei Kinder mit dem Stoff geimpft, der von ihnen entwickelt worden war. Sie waren die ersten, die eine Schluckimpfung für Kinder fanden. Der Impfstoff wurde auf einen Zuckerwürfel getropft und geschluckt. Die beiden Virologen waren nicht nur an diesem Impfstoff entscheidend beteiligt, sondern auch am Grippe-Impfstoff. … Es ist also gut möglich, dass russische Virologen diesmal dieselben unkonventionellen Methoden anwenden und ein Serum gegen Covid-19 entwickeln.“
Gefahr für Russen und die Welt
Putins Schritt ist höchst riskant, kritisiert Le Figaro:
„Indem Putin den Impfstoff in seinem Land zugelassen hat, bevor die für dessen Validierung unerlässlichen Testphasen abgeschlossen sind, setzt er seine Bevölkerung einem Produkt aus, das sich letztlich als unwirksam oder gar gefährlich erweisen könnte. Und nebenbei geht er das Risiko ein, der ganzen Welt falsche Hoffnungen zu machen. Ohne jegliche verlässlichen wissenschaftlichen Daten beschränkt sich Putins Beweisführung auf die Tatsache, dass das Produkt seiner Tochter gespritzt wurde und es ihr gut geht. … Aus Vorsicht hätte Putin sich daran erinnern sollen, dass Sputnik Moskau einen ersten Sieg bei der Eroberung des Weltraums beschert hat, die Sowjets das Rennen jedoch verloren und es nie geschafft haben, einen Fuß auf den Mond zu setzen.“
Wettrüsten wie im Kalten Krieg
Nomen est omen, analysiert Kolumnist Paolo Galimberi in La Repubblica:
„Man fühlt sich um sechzig Jahre zurückversetzt, in die Zeit der Sowjetunion. Der rote Faden ist der Name: Sputnik. Damals, am 4. Oktober 1957, war es die Eroberung des Weltraums. Gestern, am 11. August 2020, die Entdeckung des Impfstoffs für Covid-19. Doch das Ziel ist letztlich dasselbe: den Westen, Europa und die Vereinigten Staaten (beim Impfstoff auch China) zu besiegen, die Überlegenheit von Putins Russland, der Reinkarnation der UdSSR, zu bekräftigen. ... Der Impfstoff gegen das Coronavirus ist die Bühne für den zweiten Kalten Krieg, auf der, so schien es, Trump und Xi die Hauptrollen spielten. Doch man sollte Putin eben nie unterschätzen, den alten Fuchs, im KGB geschmiedet, in den trüben Jelzin-Jahren gestählt.“
Ein Schlag für die westliche Überheblichkeit
Ria Nowosti hält die Vorab-Kritik an Sputnik V für eine aus Neid, Geopolitik und Vorurteilen gespeiste Kampagne:
„Russland ging an dieses Thema etwas später heran als China, die USA und Großbritannien. Nun verursacht sein unvermitteltes Vorpreschen auf die Spitzenposition bei unseren westlichen Partnern quälende Schmerzen. … Erstens, weil es im Widerspruch zu progressiven Ideen steht. Das autoritär-tölpelhafte Russland kann doch in einer hochkomplexen wissenschaftlich-technologischen Sphäre nicht den Westen überholen. … Zweitens ist es eine Bedrohung für den geopolitischen Einfluss des Westens. Denn wenn Russland nun in Sachen Impfung aktiv mit anderen Ländern zusammenarbeitet, kann es dort seinen Einfluss weiter steigern. Das darf nicht sein. Und drittens: Geld.“
Geopolitik beiseite lassen
Wo der Impfstoff entwickelt wurde, darf jetzt keine Rolle spielen, mahnt De Tijd:
„Putin kann einen Erfolg an der Corona-Front gut gebrauchen, denn Russlands Antwort auf die Pandemie war zunächst zögerlich und undeutlich. Ein Impfstoff könnte den Präsidenten bei der eigenen Bevölkerung wieder deutlich populärer machen. Aber das gilt auch für andere Weltführer wie Trump oder den chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Im Kampf gegen die Pandemie darf es aber nicht um geopolitische Spielchen oder Gier gehen. Es geht um das Eindämmen eines weltweiten globalen Gesundheitsrisikos. Wenn ein Impfstoff wirkt, dann ist seine Herkunft nicht wichtig. Dann zählt nur Verfügbarkeit und Effektivität.“