Unterhaus stimmt für Änderung von Brexit-Vertrag
Trotz Bedenken auch von prominenten Tories hat sich das britische Unterhaus am Montag in erster Lesung klar für ein neues Binnenmarktgesetz ausgesprochen. Die Regierung will mit dem Gesetz insbesondere Warenkontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des Königreichs verhindern, die nach dem Brexit-Abkommen von 2019 mit der EU nötig wären. Stehen die Zeichen endgültig auf No Deal?
Allergisch gegen Europa
Als Vertrauensbruch bezeichnet Italiens frühere Vize-Außenministerin Marta Dassù in La Repubblica die Entscheidung:
„Der No Deal missfällt dem harten Flügel der Tories überhaupt nicht. Denn dessen Mitglieder sind allergisch gegen jede Art von Zwang in Bezug auf Europa und davon überzeugt, dass Großbritannien seine Seele als globale souveräne Macht zurückgewinnen kann und muss. Ein Szenario, mit dem Boris Johnson zu flirten beliebt. Das soeben vorgelegte Gesetz über den britischen Binnenmarkt sieht die Befugnis vor, Teile des Nordirland-Protokolls 'unangewendet' zu lassen. Die britische Regierung erhöht somit den Einsatz bei Handelsverhandlungen, macht sie aber durch die Aushöhlung bestehender Abkommen noch schwieriger. Kann man London noch vertrauen?“
Wer niemals Recht bricht, werfe den ersten Stein
Nicht nur Großbritannien setzt sich über internationale Abkommen hinweg, wenn es opportun erscheint, verteidigt The Daily Telegraph das Vorgehen Boris Johnsons:
„China ignoriert die Regeln der WTO und manipuliert seine Währung. Gleiches gilt für die EU, insbesondere für Deutschland und Frankreich. Russland und China verletzen Staatsgrenzen, siehe Krim und Hongkong. Sogar die USA ignorieren Normen und Regeln, wenn es ihnen passt. Beispiele dafür sind Guantanamo Bay und die Einstellung von Zahlungen an die WTO sowie die WHO. Darüber hinaus hat die EU selbst die Bestimmungen des mit London im vergangenen Jahr vereinbarten EU-Austrittsabkommen offen ignoriert. Sie hat sich bei den Verhandlungen als nicht vertrauenswürdig erwiesen und keinerlei Absicht erkennen lassen, ein Freihandelsabkommen erzielen zu wollen.“
Noch ist nicht aller Tage Abend
Bei allem Getöse, Johnson kann sich einen Verhandlungsstopp mit Brüssel gar nicht leisten, meint Financial Times:
„Solange die Form des EU-Austritts nicht endgültig ausverhandelt ist, kann das Thema immer wieder neu aufgerollt werden. Daher braucht Boris Johnson trotz all seiner prahlerischen Rhetorik immer noch ein Freihandelsabkommen mit der EU. Denn wenn die Übergangsphase endet und es nicht wenigstens ein auf das Nötigste reduziertes Abkommen gibt, wie viele befürchten, riskiert Herr Johnson sein gesamtes Projekt. Der Brexit ist der Unterbau für alles, was er tut. Der EU-Austritt muss nicht sofort als Erfolg angesehen werden, er darf jedoch keinesfalls als Katastrophe interpretiert werden. ... Ein No-Deal-Ende der Übergangsphase bedeutet, dass der Brexit nicht wirklich geschafft ist. Es würde der Opposition eine Angriffslinie bieten und bedeuten, dass die endgültige Form des Brexit offen bleibt.“
Verändert Corona die Risikowahrnehmung?
Auch die Pandemie könnte eine Rolle dabei spielen, dass so viele in London diese Kehrtwende in Betracht ziehen, erklärt Kolumnist Ferruccio de Bortoli in Corriere del Ticino:
„Bis vor kurzem schien die Möglichkeit eines No Deal der klassische 'schwarze Schwan' zu sein. Nämlich die plötzliche Öffnung eines Abgrunds vor den Augen von Regierungen und Märkten. Angesichts eines viel verheerenderen 'schwarzen Schwans', der unendlich viele Menschenleben gekostet hat, wurde die britische Scheidung zu einem gewöhnlichen Management-Ereignis heruntergestuft. ... Vielleicht liegt diese veränderte Risikowahrnehmung der Entscheidung der britischen Regierung zugrunde, mit dem in diesen Tagen im Unterhaus diskutierten Internal Market Bill das Abkommen mit Brüssel vom 24. Januar 2020 auszuhebeln.“