Ausnahme als Dauerzustand: Risiko für Demokratie?
In der Corona-Krise haben sich viele Regierungen Sonderbefugnisse verschafft. Nun, wo die Pandemie seit Monaten andauert und mit dem Herbst neue Verschärfungen der Auflagen drohen, fragen sich Beobachter: Rechtfertigt das Argument der Ausnahmesituation eine Machtkonzentration bei den Regierenden und Einschränkungen der Bürgerrechte? Und droht die Demokratie in der Pandemie Schaden zu nehmen?
Angst ist ein schlechter Gesetzgeber
Vor einer Einschränkung der Individualrechte zum Schutz der kollektiven Gesundheit warnt Jurist Thomas Manhart in einem Gastkommentar für den Tages-Anzeiger:
„Die Demokratie wird regelmässig in Krisenzeiten geschwächt, also immer dann, wenn grosse Unsicherheit herrscht. Man muss nicht zwingend 90 Jahre zurückgehen, um Parallelen zu finden. Ein Blick nach Russland, in die USA, Ungarn oder die Türkei und nun leider auch in die Schweiz, dem Stammland der direkten Demokratie, ergibt heute ein ähnliches Bild. Verunsicherung und Angst sind immer ein schlechter Rat- und ein noch schlechterer Gesetzgeber. ... Es fällt ... auf, dass zurzeit in der politischen Diskussion vor allem von den Behörden die Individualrechte des einzelnen Menschen der kollektiven Gesundheit untergeordnet werden. Das ist gefährlich. Und es widerspricht unserer Verfassung.“
Demokratie kommt auch mit Corona klar
Die dänische Minderheitsregierung hat während der Corona-Krise Sonderbefugnisse bekommen und kann bestimmte Maßnahmen per Dekret beschließen - wobei dieses Recht automatisch Anfang 2021 ausläuft. Aufgrund steigender Infektionszahlen denkt die Regierung nun über neue Maßnahmen nach. Berlingske will die Sonderbefugnisse schon jetzt abschaffen:
„Wir müssen jetzt die Revision beschleunigen. Die Demokratie, wie wir sie aus der Zeit vor Corona kennen, kann mit der aktuellen schwierigen epidemiologischen Situation sehr wohl umgehen. Es ist ungesund, dass einer Minderheitsregierung eine solch umfassende Macht zugebilligt wird, wie es jetzt der Fall ist. Es wird Zeit, dass die Volksherrschaft sich mit der Corona-Pandemie und deren Folgen auseinandersetzt, die so vieles in der dänischen Gesellschaft über viele Jahre hinweg entscheidend beeinflussen werden.“
Klare Kommunikation ist das A und O
Die Politik muss in der Corona-Krise umso mehr mit Bedacht kommunizieren, mahnt der Kurier:
„Die interessierte Öffentlichkeit sollte … nicht im Tages- oder Halbtagestakt informiert werden. Das überfordert. ... Konkrete Prognosen darüber, was in der Pandemie passieren wird, sollten tunlichst unterbleiben. Wenn ein Entscheidungsträger prophezeit, dass 'bald jeder jemanden kennen wird, der an Corona verstorben ist' und später - Gottseidank! - mit der Warnung falsch liegt, vergrämt er die Wähler genauso wie jemand, der allzu optimistisch ansagt, es gäbe schon im Jänner eine taugliche Schutzimpfung. Die Pandemie-Politik ist ein Ritt auf der Rasierklinge, vieles ist offen. Eines aber gilt unverändert: Wer Bürger verwirrt oder vergrämt, verliert sie. Und genau das können wir uns nicht leisten.“
Die Opposition muss sich an die Arbeit machen
In Estland ist das Parlament nach langer Sommerpause am Montag erstmals wieder zusammengetreten. Woran die estnische Demokratie in der Corona-Krise krankt, skizziert ERR Online:
„Dummheiten hat die Regierung sicherlich gemacht, aber mehr als von der Opposition wurden diese von den Medien aufgedeckt. Die tiefe Polarisierung der politischen Landschaft ist nicht gut für den Staat und die Menschen, denn in diesem Herbst brauchen wir inhaltliche Debatten über wirtschafts- und gesundheitspolitische Schritte. Und wir haben noch ein Problem - die Opposition ist unfähig, Alternativen zur Regierungspolitik anzubieten. Hat jemand von einem konkreten Plan der Opposition gehört, wie die estnische Wirtschaft aus der tiefen Coronakrise rauszuholen wäre?“