Opposition punktet bei Regionalwahlen in Russland
Bei den Regionalwahlen am Sonntag in Russland wurden zwar alle angetretenen Gouverneure der Kreml-Hauspartei Einiges Russland bestätigt, mancherorts erlitten deren Vertreter jedoch deutliche Niederlagen. Kommentatoren fragen sich, wie es dazu kommen konnte: Hatte Alexej Nawalnys Stimmenbündelungs-Strategie Erfolg, oder will der Kreml geschickt eine vorbildliche Demokratie mimen?
Steter Tropfen höhlt den Stein
Der oppositionelle Moskauer Stadtteil-Bürgermeister Ilja Jaschin betont in einem von newsru.com übernommenen Facebook-Eintrag die Wahlerfolge von Nawalny-Vertretern - just in jenen sibirischen Städten, wo sich dieser vor seiner Vergiftung aufgehalten hatte:
„Zu Abgeordneten gewählt wurden die Koordinatoren der Nawalny-Stäbe in Tomsk und Nowosibirisk, Ksenia Fadejewa und Sergej Boiko. Beide sind schon lange in der Politik aktiv und arbeiten mit Nawalny zusammen. Doch bisher brachte ihnen diese Kooperation nur Ermittlungsverfahren, Hausdurchsuchungen, 30-tägige Arreststrafen und andere zweifelhafte Vergnügen ein. Doch steter Tropfen höhlt den Stein: Mit ihren Wahlsiegen über Einiges Russland sind sie in die Verwaltungsorgane eingezogen. Das ist ein wichtiger Präzedenzfall. “
Putin ist geschickter als Lukaschenka
Dass Putins Partei Einiges Russland nicht überall gewonnen hat, ist kein Zeichen beginnender Machterosion, sondern gehört zum Herrschaftssystem des Kremls, schreibt Der Tagesspiegel:
„Zu diesem System gehört ein scheinbares Mehrparteien-System, in dem mal die Kommunisten, mal die faschistoide Schirinowski-Partei mit Nadelstichen so etwas wie Opposition simulieren dürfen. Dazu gehört aber auch, dass man lokale Proteste – wie gegen die Absetzung eines Gouverneurs im fernen Sibirien, eine Mülldeponie im Hohen Norden Russlands oder eine Kirche in Jekaterinburg nicht sofort unterdrückt, sondern erst einmal laufen lässt. Und dazu gehört auch, dass Putins Kandidaten bei Wahlen auch mal wie jetzt - kontrolliert - verlieren. So vermeidet die russische Führung, dass sich ein Pulverfass wie beim Nachbarn Belarus bis zum Rand füllt.“
Die Bürger politisieren sich
Nowaja Gaseta stellt fest, dass sich die Maßnahmen des Kremls zum Machterhalt und das politische Bewusstsein der Wähler gegenseitig verstärken:
„Entscheidend für die Fähigkeit der Bürger, sich unter den gegenwärtigen Bedingungen real an der Politik zu beteiligen, ist der Charakter der jeweiligen lokalen 'Wahlkultur': Dort, wo die Wahlkommissionen es gewohnt sind, relativ ehrlich zu zählen, erleiden die Kandidaten des Staatsapparats schmerzhafte Niederlagen. Es gibt zwei gegenläufige Prozesse: Einerseits baut die Staatsmacht immer mehr Hürden für die demokratische Willensbildung auf, andererseits versagen ihr die Bürger das Vertrauen und politisieren sich. Mit diesem Gepäck geht es nun in Richtung Duma-Wahlen 2021. “