Papst-Enzyklika: Wegweiser in der Pandemie?
Fratelli tutti, "Alle Brüder" - so hat Papst Franziskus seine dritte Enzyklika genannt. In dem Lehrschreiben zeichnet er seine Vision von einer besseren Politik und mehr Solidarität. Demnach habe die Pandemie uns gezwungen, wieder an "alle zu denken anstatt an den Nutzen einiger". Kommentatoren diskutieren die Bedeutung des Textes im weltlichen Kontext.
Kein Populismus, sondern Volksnähe
Der Papst schlägt einen dritten Weg vor, zwischen Individualismus und Populismus, lobt Andrea Riccardi, Gründer der christlich inspirierten Laienbewegung Sant'Egidio, in Corriere della Sera:
„Sicherlich fragt man sich, ob es nicht vereinfachend ist, in einer so komplexen Welt wie der unseren von 'Brüderlichkeit' und 'sozialer Freundschaft' zu sprechen. … 'Fratelli Tutti' schlägt die Globalisierung der Brüderlichkeit als einen Weg vor, Bindungen neu zu schaffen, Konflikte zu heilen, den Frieden zu bejahen und gemeinsam in die Zukunft zu blicken. … In der Vision des Papstes ist der Gedanke der Volksnähe zentral, die im Namen der Brüderlichkeit einen Weg zwischen liberalem Individualismus und Populismus zeichnet: ein Volk, das aus intermediären Gemeinschaften besteht, das ein Projekt hat, einen Traum vom Wachsen.“
Unangebrachter Furor gegen die Marktwirtschaft
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zieht ein zwiespältiges Resümee:
„Es ist gut, dass Papst Franziskus … für die Achtung der Menschenrechte eintritt - in der Welt. Denn in seiner Kirche gelten andere Gesetze. Da gibt es Menschenrechte nur in den Schranken einer als angeblich von Gott her unabänderlichen Geschlechterordnung. Gut ist es auch, dass der Papst für mehr Solidarität unter den Menschen wirbt. Allerdings richtet sich der päpstliche Furor wieder einmal gegen alles, was auch nur entfernt mit Marktwirtschaft und Globalisierung zu tun hat. Soweit bekannt, hat der Sozialismus des 20. und 21. Jahrhunderts weder die Armut verringert noch nennenswert zur Bewahrung der Schöpfung beigetragen.“
Begegnung mit dem Anderen
Das Werk des Papstes zeugt von seiner Bereitschaft, sich anderen Religionen zu öffnen, schreibt Tygodnik Powszechny:
„Das Bemerkenswerte an dieser Enzyklika ist, dass Ahmad Al Tayyeba, ein Muslim, der Große Imam der Al-Azhar-Universität, im Text (nicht in den Fußnoten!) fünf Mal als jemand erwähnt wurde, der für Franziskus eine Quelle der Inspiration war. ... Man kann sagen, dass Franziskus (nicht zum ersten Mal) etwas sagt und es gleichzeitig tut. Er spricht von einer tiefen Begegnung mit dem Anderen, wobei die Identität der einzelnen Gesprächsteilnehmer gewahrt bleibt.“
Gegenentwurf zu US-Katholizismus
Dass die katholische Kirche in den USA einen völlig anderen Weg geht, bemerkt Irish Examiner:
„Es wäre interessant, wenn man unbemerkt zuhören könnte, wie Papst Franziskus diese Themen mit der zunehmend rechtsgerichteten Führung des US-amerikanischen Katholizismus bespricht. Donald Trumps Kandidatin für den Obersten Gerichtshof, Amy Coney Barrett, verkörpert diese Ausformung des Katholizismus, die gemeinsam mit dem US-Präsidenten daran arbeitet, die Sozialgesetzgebung zurückzudrängen. Kardinal Timothy Dolan aus New York, der ranghöchste US-Katholik, stellte sich demonstrativ hinter Trump, als er im August dem Konvent der Republikaner seinen Segen gab. Ein Drittel der US-Katholiken sind Latinos, Tendenz steigend. Sie werden erkennen, dass der teuflische Pakt zwischen ihrer Kirche und Trump keine Rücksicht auf ihre Lebenssituation nimmt.“