USA: Neustart mit Biden?
Am Samstag war es klar genug: Joe Biden konnte sich in seiner Heimatstadt Wilmington (Delaware) als Wahlsieger feiern lassen. In seiner Siegesrede betonte Biden, er wolle Präsident aller US-Bürger sein - auch derjenigen, die nicht für ihn gestimmt hätten. Europas Presse traut dem Demokraten mehrheitlich zu, das gespaltene Land tatsächlich zu einen.
Opferrhetorik hat ausgedient
Mit Bidens Stehaufmännchen-Biografie können sich Bürger aller Lager und Schichten identifizieren, hofft die NZZ am Sonntag:
„In den USA wird heute - mehr als anderswo - in beiden politischen Lagern aus dem Opferstatus eine moralische Überlegenheit gezogen, die ein vernünftiges Gespräch verunmöglicht. ... Dennoch verspricht die Wahl des 77-Jährigen eine leise Hoffnung. Angetreten ist er als Versöhner und bei all seinen Schwächen verkörpert er jenen Wesenszug des Landes, der diesem in der Vergangenheit geholfen hat, aus Krisen zu finden. Als ein Mann, der sich nach schweren Schicksalsschlägen (er verlor seine erste Frau und zwei Kinder) und politischen Niederlagen wieder aufrappelte, ist er das Gegenmodell zur narzisstischen Opferrhetorik Trumps.“
Neuer Präsident muss Brücken bauen
Wenn Biden und Harris davon sprechen, die Seele Amerikas zu heilen, ist das wichtig, schreibt Berlingske:
„Aber das muss mit mehr als schönen Worten geschehen. Biden und Harris müssen zeigen, dass sie sich nicht vom Links-Flügel der Demokraten durch die Manege treiben lassen, sondern auch jene mehr als 70 Millionen Wähler erreichen, die für Trump gestimmt haben. Sie müssen die Probleme und Meinungen dieser Menschen ernst nehmen und das in konkreten politischen Handlungen zeigen. In diesem Zusammenhang wäre es keine schlechte Sache, wenn der Senat weiterhin republikanisch kontrolliert bliebe. Das zwingt zu einer Zusammenarbeit, die echte Ergebnisse liefert - etwas, das es in Washington leider seit Jahrzehnten nicht gegeben hat. Nur indem er diese Zustände fundamental ändert, kann Biden das Misstrauen gegenüber dem System in neues Zutrauen verwandeln.“
Trump geht, seine Fans bleiben
Trump mag seine Macht verloren haben, seine Ideologie aber dürfte prägend bleiben, befürchtet Večernji list:
„Selbst wenn Trump entscheiden sollten, sich völlig zurückzuziehen, wird der 'Trumpismus' weiterleben. Eine Mischung aus Wirtschaft, Rassismus, politischer Inkorrektheit, roher Leidenschaften, Gewalt und Sehnsucht nach vergangenen Zeiten und seine Charakterzüge haben sich tief in das amerikanische Volk eingebrannt. Sei es bei weißen Männern aus der Arbeiterklasse, die dachten, ihre Stimme werde nicht mehr gehört, sei es bei Einwanderern, besonders aus Lateinamerika, die applaudiert haben, als er Kinder von ihren Eltern getrennt hat und strengere Kontrollen forderte, aber auch bei denjenigen, die ihn als Schutz vor dem Sozialismus sahen, vor dem sie geflohen sind. ... Das Land ist geteilt und so nervös wie nie zuvor.“
Ein bisschen Revolution muss sein
Der Philosoph Massimo Cacciari wünscht sich in La Stampa weniger Zurückhaltung im Umgang mit undemokratischen Tendenzen:
„Die populistische Demagogie wird nicht besiegt, indem man mit ihren Vertretern verhandelt, sondern indem man die Themen, die sie zum Sieg führten, aufgreift und bekämpft und zwar mit einer diametral entgegengesetzten Strategie. ... Es ist nun ein New Deal des gesamten demokratischen Westens nötig. Wenn er nicht rasch und glaubwürdig auf die Beine gestellt wird, werden die Trumps zurückkommen, so wie sie auf die Obamas folgten. ... Wird Biden, der konservative Biden, begreifen, dass auch für ihn die Zeit gekommen ist, wenigstens ein bisschen 'revolutionär' zu sein? Steht die Wahl von Harris für eine solche Absicht? Diejenigen, denen Europa und die Entwicklung seiner Demokratie am Herzen liegt, sollten dies hoffen.“
Rückkehr zur Zusammenarbeit
Iltalehti ist optimistisch, dass Washington politischen Gegnern und Verhandlungspartnern im In- und Ausland nun wieder offener gegenübertritt:
„Die politischen Leitlinien des designierten US-Präsidenten Joe Biden sorgen bei vielen Bündnispartnern der USA für Erleichterung. … Die USA von Biden werden die Europäische Union als Institution und wichtigen Partner anerkennen. Anders als Trump, der auf bilaterale Beziehungen setzte. … Biden wird es nicht leicht haben, die Bürger zu einen. Er hat jedoch gute Voraussetzungen eine Politik der Zusammenarbeit voranzubringen. Dabei helfen ihm seine lange politische Karriere und seine guten persönlichen Beziehungen über Parteigrenzen hinweg.“