Brexit-Hardliner verlassen Downing Street
Wenige Tage nach dem Rückzug von Boris Johnsons Kommunikationschef Lee Cain ist auch Chefberater Dominic Cummings gegangen. Nur wenige Wochen vor Ende der Brexit-Übergangsphase verlassen damit zwei langjährige Weggefährten Johnsons die Downing Street, die beide als vehemente Brexit-Verfechter gelten. Ein gutes Zeichen für einen Deal mit der EU?
So konstruktiv war London lange nicht
Die Umwälzungen in der Downing Street haben auch mit Joe Bidens Sieg in Washington zu tun, glaubt der Deutschlandfunk:
„Der nächste US-Präsident ist kein Populist, sondern ein Mann mit Werten. Ein Liberaler, der mit und nicht gegen Amerikas Verbündete in der Welt Politik machen will. Boris Johnsons bullige Brexit-Politik, seine Vertrags- und Wortbrüche, auch sein loses Mundwerk: All das findet Joe Biden alles andere als lustig. Und Johnson weiß, dass auch ihm das Lachen bald vergeht, wenn er weitermacht wie bisher. Also versucht der wendige britische Regierungschef, was er gut kann: Einen U-Turn. Seit Bidens Wahlsieg hört man von Boris Johnson kein böses Wort mehr über die EU. Stattdessen schürt er Hoffnungen auf einen Handelsvertrag mit den Europäern. So friedlich und konstruktiv hat man London schon länger nicht gesehen.“
Der Verbissenste sitzt ganz oben
Cummings' Abgang macht einen Deal mit der EU nicht wahrscheinlicher, glaubt Irish Times:
„Die Hoffnung, dass der jüngste überraschende Personalwechsel in Downing Street ein Zeichen dafür sein könnte, dass Premier Johnson Hindernisse aus dem Weg räumt, die einem Brexit-Deal in letzter Minute im Wege stehen könnten, wird von Beobachtern in London als Wunschdenken bewertet. ... Johnson braucht niemanden, der ihn gegen Europa aufstachelt, manche bezeichnen ihn als Downing Streets fanatischsten Brexiteer. Die Gespräche über die künftige Beziehung, die nächste Woche wieder aufgenommen werden, brauchen einen entscheidenden Anstoß vom impulsiven Johnson. ... Aber das wird möglicherweise nicht passieren. Ob es einen Deal geben wird, steht in den Sternen.“
Johnson läutet neue Phase ein
Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich ausgerechnet jetzt die Spannungen in der Downing Street entladen, spekuliert der London-Korrespondent des Handelsblatts, Carsten Volkery:
„In Johnsons Umfeld setzt sich offenbar die Einsicht durch, dass ein Neuanfang nötig ist - und dieser auch personelle Konsequenzen erfordert. Mancher konservative Abgeordnete hofft bereits auf ein reinigendes Gewitter, das nach Cain auch den Rest der Brexit-Hardliner hinwegfegt. Johnson hatte bereits im Frühjahr die Gelegenheit, seinen Chefberater zu entlassen, nachdem dieser gegen die Lockdown-Regeln verstoßen hatte. Damals hielt er an Cummings fest, weil er ihn für unverzichtbar hielt. Sobald der Brexit jedoch vollzogen ist, könnte Johnson die Lage neu bewerten - und die nächste Phase seiner fünfjährigen Amtszeit einläuten.“
Höchste Zeit für mehr Kompetenz
Johnson sollte so schnell wie möglich ein besseres Team zusammenstellen, appelliert The Guardian:
„Der Austritt aus der EU bringt einen komplexen wirtschaftlichen und geostrategischen Wandel mit sich. Er würde für die kompetenteste aller Regierungen einen schrecklichen Verwaltungsaufwand bedeuten. Johnson ist mit seiner Mentalität für diese Aufgabe nicht gut geeignet - aber er könnte doch zumindest Personen an Bord holen, die das sind. Das derzeitige Team rund um den Premier ist der anstehenden Herausforderung nicht gewachsen. Deshalb ist auch das Land nicht gerüstet. Es ist nicht zu spät für Johnson, drastische Änderungen vorzunehmen, um zu zeigen, dass er wenigstens bis zu einem gewissen Grad regierungsfähig ist. Doch es läuft die Zeit davon.“