Berlin: Hilft Enteignung gegen Wohnungsmangel?
Die Mehrheit der Berliner hat am Sonntag für die Vergesellschaftung großer privater Wohnungskonzerne gestimmt. Betroffen sind Unternehmen, wenn sie in der Stadt mehr als 3.000 Wohnungen besitzen. Rechtlich bindend ist das Votum aber nicht. Der Volksentscheid beschäftigt auch Europas Presse: Während die einen ihn als realitätsfern abtun, sehen andere darin ein Zeichen der Zeit - nicht nur für Berlin.
So radikal wie ermutigend
Das könnte den Wandel des Wohnungsmarkts auch anderswo beschleunigen, glaubt The Irish Times:
„Das Referendum folgt einem breiteren Trend zu politischen Aktionen rund um dieses Thema, den man im Sommer in ganz Europa beobachten konnte. Im Juni verlor der schwedische Premierminister als erster überhaupt bei einem Misstrauensantrag, nachdem er inmitten der schwedischen Immobilienkrise vorgeschlagen hatte, den Mietendeckel auf neu gebaute Häuser aufzuheben. Vor zwei Wochen demonstrierten in Amsterdam 15.000 Menschen gegen die steigenden Haus- und Mietpreise. Berlins Enteignungskampagne ist radikal. ... Aber während die Aktivisten in Berlin triumphieren, sind Tausende irische Familien obdachlos und es werden immer mehr. Die Zeit für ein Referendum ist gekommen.“
Demokratische Mechanismen funktionieren
Jurnalul National zollt der Aktion Anerkennung:
„Das Votum ebnet den Weg für eine Vergesellschaftung von rund 240.000 Wohnungen, die in Berlin einen spekulativen Markt bilden. Auf diesem Markt haben sich die Mietpreise in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Auch in einem Land, in dem Privateigentum heilig zu sein scheint, greifen offensichtlich demokratische Mechanismen zur Regulierung des Marktes, einschließlich der Vergesellschaftung mit Entschädigung, durchgesetzt mittels einer Volksabstimmung.“
Wirtschaftlicher Analphabetismus
Die Befürworter machen sich offensichtlich Illusionen, meint Die Presse:
„Es wird wohl nicht so weit kommen. … Zum einen gibt es da den Eigentumsbegriff im deutschen Grundgesetz, der nicht ganz so einfach auszuhebeln ist. Schon gar nicht durch eine echte, beinahe entschädigungslose Enteignung, wie sie den Initiatoren vorschwebt. Zum anderen kann sich die Stadt Berlin die gut 36 Milliarden Euro, die eine halbwegs marktkonforme Entschädigung kosten würde, gar nicht leisten. Erschreckend ist also nicht nur das Resultat der Volksbefragung. Sondern auch der unglaubliche wirtschaftliche Analphabetismus in großen Teilen der Bevölkerung und der Politik, der sich in dieser Entwicklung manifestiert.“
Ausgerechnet im einst geteilten Berlin
Evenimentul Zilei ist überrascht, dass gerade in Berlin eine solche Forderung den Nerv der Mehrheit trifft:
„Berlin ist nicht irgendeine Stadt, Berlin ist die Stadt, wo die Mauer fiel. ... Dies war das Ende des Kalten Krieges, ein historischer Moment, dessen Bedeutung wir heute, wenn wir mit materiellen Problemen konfrontiert sind, auf einmal vergessen. Man würde hier erwarten, dass egalitäre Lösungen wirtschaftlicher Probleme nicht auf die Tagesordnung kommen, oder ganz und gar von den Leuten abgelehnt werden, deren Familien einst durch den Eisernen Vorhang getrennt waren und wussten, wie diejenigen, die versuchten, über die Mauer in den Westen zu fliehen, erschossen wurden.“