Türkei: Preisanstieg in Rekordhöhe
Nach 36 Prozent Inflation im Dezember 2021 erlebte die Türkei zum Jahreswechsel einen Preisschub bei Energietarifen und Mietpreisen: Strom wurde für Haushalte mit geringem Verbrauch 50 Prozent teurer. Bei höherem Verbrauch steigt der Tarif noch stärker. Auch die Preise für Erdgas, Benzin, Brückenmaut und die Mieten stiegen spürbar. Der Protest wächst.
Gesteht Erdoğan Fehler ein?
Der Chef der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, hat über Twitter verkündet, dass er seine Stromrechnung nicht zahle, bis der Präsident die Verteuerungen wieder zurücknimmt. Dazu müsste Erdoğan aber erstmal eingestehen, einen Fehler gemacht zu haben, kommentiert Yetkin Report:
„Politische Zirkel in Ankara diskutieren, dass das 210-Kilowatt-Limit auf 250 Kilowatt erhöht werden könnte. Für Haushalte auf diesem niedrigsten Verbrauchsniveau würden die Rechnungen dann um 50 Prozent aber immerhin nicht mehr um 125 Prozent steigen. ... So eine Änderung hilft zwar weder der Industrie noch dem Handel, aber der Präsident muss zumindest eingestehen, dass er Entscheidungen auf Grundlage falscher Berechnungen getroffen hatte und sie deshalb revidieren musste.“
Ohne Angst zum Protest aufrufen
Statt nur zu jammern sollten die Oppositionspolitiker endlich zum Widerstand trommeln, fordert Cumhuriyet:
„Dieses ständige Gejammere nervt mittlerweile wirklich. ... Warum ruft ihr nicht das Volk auf die Straße, um gegen die Benzin-, Erdgas- und Strompreise zu protestieren? Habt ihr Angst, dass der Ausnahmezustand ausgerufen werden könnte? Mein Gott, wir leben doch längst im Ausnahmezustand! Was kann denn Schlimmeres passieren? Selbst kleine Kinder werden wegen Präsidentenbeleidigung verhaftet, Hunderte Mitglieder der HDP sitzen ein, Journalisten stecken im Gefängnis. Was kann uns denn noch passieren?“
Die Inflation wird die Wirtschaft abwürgen
Diese Preisanstiege sind nur der Anfang, das Schlimmste steht noch bevor, warnt Karar:
„Die künstliche Senkung des Leitzinses hat zuerst den Lira-Kurs hochschnellen lassen und dann die Preiserhöhungen nach sich gezogen. Die Zunahme der Inflation und der Risiken aus dieser Ungewissheit haben sich in den Krediten niedergeschlagen und dazu geführt, dass die Kreditzinsen hochgehen. ... Das Tempo des Anstiegs und Absturzes des Lira-Kurses hat die Basis für die Preisgestaltung zerstört und beginnt, sich negativ auf den Handel auszuwirken. Dabei ist es gewiss, dass ein beeinträchtigter Handel die Produktion und schließlich auch die Investitionen behindert. Für uns bleibt jetzt nur noch abzuwarten, bis sich dieser Effekt auch auf die Wirtschaftsdaten auswirkt.“
Trotz tiefer Krise sieht Erdoğan die Lage rosig
Wie lange kann eine Wirtschaftskrise mit Feindbildern vertuscht werden, fragt sich Yetkin Report:
„Präsident Erdoğan kündigt weiter höhere Ziele an, weil er durch eine rosarote Brille schaut, während die Position der Türkei im internationalen Vergleich schrittweise zurückfällt, vom Pro-Kopf-Einkommen bis zur ungleichen Einkommensverteilung, von den Frauenrechten bis zur Unabhängigkeit der Justiz und der Pressefreiheit. ... Man versucht, Preiserhöhungen, Finanznöte und Arbeitslosigkeit mit der Schaffung von Feindbildern zu verschleiern: 'Deutschland ist neidisch auf uns, England ist am Boden zerstört, Amerika ist bankrott.' Ist das tragfähig? Falls ja, wie lange noch? Möglicherweise können so Krisen für eine Weile gemanagt werden, aber kann man so die Wirtschaft permanent antreiben?“
Teuerung führte schon einmal zum Machtwechsel
Die jüngere türkische Geschichte sollte Erdoğan eine Warnung sein, meint der Istanbul-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung:
„Die Teuerungsrate in der Türkei war zuletzt 2002 so hoch und die Experten sagen für das Frühjahr bereits 40 Prozent Inflation voraus. Das muss Erdoğan weit mehr beunruhigen als die Kritik an der von ihm verantworteten politischen Repression: 2002 kostete die Geldentwertung, neben der wuchernden Korruption und anderen Verrottungserscheinungen, die damalige säkulare Regierung das Amt - und brachte Erdoğan an die Macht.“